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“Unsere Talente sind die, die am meisten leiden”

von Julia Nikoleit

 

Wer sich die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Arbeit am Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein vor Augen führen will, muss nur einen Blick in den Kraftraum werfen. Am Standort des OSP im Hamburger Stadtteil Dulsberg trainieren normalerweise bis zu 30 Spitzen- und Nachwuchssportler*innen gleichzeitig, im Eingangsbereich stapeln sich die Taschen.

Im August 2020 bietet sich ein anderes Bild: Es ist ruhig, viele Geräte sind verwaist, lediglich einzelne Sportler arbeiten an Kraft und Athletik. Die Abläufe sind Corona gerecht optimiert: Es gibt einen Belegungsplan; nur wer eingetragen ist, darf trainieren. Die Trainer dokumentieren die Anwesenheit gleich doppelt. Am Eingang steht Desinfektionsmittel bereit; es herrscht – außer beim Training – Maskenpflicht im gesamten Gebäude.

„Vor Corona haben wir den Kraftraum bestmöglich ausgelastet, es war wirklich Leben in der Bude“, erinnert sich Ingrid Unkelbach. Die ehemalige Leistungsschwimmerin leitet den Olympiastützpunkt seit 2001, vorher war sie dort Laufbahnberaterin. Aktuell dürfen sich in ihrem Kraftraum nur maximal zehn Menschen aufhalten – inklusive Trainer*innen. Sie gibt zu: „Im Vergleich zu vorher fühlt es sich leer an.“

Vorher. Das heißt: Vor Corona, als in diesem Kraftraum der zwei Meter große Ruder-Olympionike neben dem Siebtklässler der benachbarten Eliteschule des Sports trainierte. „Das war schön, weil die Nachwuchstalente ihre Vorbilder direkt vor Augen hatten“, sagt Unkelbach. „Jetzt ist es hier reiner Hochleistungssport.“

Die Schüler*innen, die teilweise das Internat des Olympiastützpunkts bewohnen, müssen sich aktuell hintenanstellen – die verbleibenden Kapazitäten reichen nur für das Training der  Bundeskaderathlet*innen. „Es ist jetzt alles ein bisschen bürokratischer“, gesteht Unkelbach ein. „Ich muss die Athlet*innen allerdings loben – sie ziehen alle mit und haben Verständnis.“

Inzwischen, nach einem halben Jahr mit Corona, hat sich auch „eine gewisse Routine eingeschliffen“, wie Unkelbach es nennt. Das Internat, das im Frühjahr geschlossen wurde, ist nach den Sommerferien wieder voll belegt, die Leistungsdiagnostik findet unter Schutzmaßnahmen ebenso statt wie die Physiotherapie in der angeschlossenen Praxis, die Ernährungs- und Laufbahnberatung und die Angebote der Sportpsychologen.

Normal ist die Arbeit in Hamburg allerdings noch nicht, was auch beim Blick in den Sanitärbereich deutlich wird. „Die Duschen sind weiterhin ein hochsensibler Bereich“, betont Unkelbach. Um dort den notwendigen Abstand gewährleisten zu können, klebten ihre Mitarbeiter kurzerhand zwei der vier Duschköpfe zu. Viele Sportler*innen duschen daher aktuell zu Hause.

Für die Beachvolleyballer*innen mag das kein Problem sein, für die Schwimmer*innen hingegen schon – eine Sportart, die ohnehin besonders unter Corona litt. „Das war in den Hochphasen von Corona echt absurd“, erinnert sich Unkelbach mit einem Kopfschütteln. „Das erste Konzept sah vor, dass die Umkleiden gar nicht genutzt werden sollten – und ich habe nur gefragt: Wie stellt ihr euch das vor? Sollen sich die Schwimmer*innen vor ihren Trainer*innen und ihren Trainingskollegen*innen umziehen oder in den nassen Sachen nach Hause gehen?“

Dass die Schwimmer*innen des OSP überhaupt im Frühjahr ins Wasser durften, war einer Sondergenehmigung der Stadt Hamburg zu verdanken, die Unkelbach und ihr Team sofort nach dem Lockdown im März beantragten. Die Olympioniken aller Disziplinen durften nahtlos weiter trainieren, während die Internatsschüler*innen nach Hause geschickt werden mussten.

Nach der Absage von Tokio 2020 wurde die Trainingserlaubnis jedoch wieder aufgehoben. „Wir haben nach einer kurzen Pause wieder insistiert, denn es musste ja weitergehen“, erzählt Unkelbach. „Wir mussten unseren Hochleistungssportler auch aus gesundheitlichen Gründen die Möglichkeit wiedergeben, zu trainieren.“

Die Erlaubnis kam, es ging weiter – wenn auch eingeschränkt. „Gerade einige Leistungstests waren untersagt, aber die Periodisierung war ohnehin über den Haufen geworfen. Wir brauchten zu der Zeit keinen Test, um festzustellen, dass unsere Athleten nicht ausreichend trainieren konnten“, schmunzelt Unkelbach rückblickend.

In Kurzarbeit waren die 30 Mitarbeiter*innen des Olympiastützpunktes zu keiner Zeit. „Es hat sich auch keiner gelangweilt; wir haben die Zeit gut genutzt“, betont Unkelbach. Gerade die Laufbahnberater*innen und Sportpsychologen hatten in der Hochphase von Corona jedoch mehr als sonst zu tun. „Unseren Athleten*innen ist die Saison einfach weggebrochen, das war eine harte Zeit“, erinnert sich Unkelbach. „Sie standen hier in vollem Saft und wurden in der vollen Fahrt ausgebremst. Das war für unsere hochtrainierten Athleten*innen kopfmäßig die Hölle.“

Während das Training für die Spitzensportler*innen inzwischen wieder einigermaßen normal läuft, werden Meisterschaften weiterhin nur vereinzelt ausgetragen. „Training um des Trainings willen macht man nicht – unsere Athleten*innen brauchen den Wettkampf“, weiß Unkelbach. „Sie sind dankbar für jeden Hoffnungsfunken, wie zum Beispiel die Wettbewerbe in der der Leichtathletik und im Beachvolleyball – das war vor drei Monaten auch noch nicht denkbar.“

Gerade Hamburg hat im Bundesvergleich noch sehr rigide Bestimmungen; erst seit dem 1. September sind in der Hansestadt beispielsweise wieder Trainingsspiele im Hockey möglich, die in anderen Regionen Deutschlands schon längst wieder zugelassen waren. „Es bringt nichts, darüber zu jammern, wie es sein müsste – man muss die Situation annehmen, professionell damit umgehen und flexibel reagieren“, betont Unkelbach. Als die Problematik der Urlaubsrückkehrer*innen aufkam, reagierte das OSP-Team sofort: Alle, die die Räumlichkeiten nutzen wollten, mussten im Falle eines Auslandsurlaubs einen negativen Coronatest vorlegen.

Die ehemalige Leistungsschwimmerin macht sich aktuell jedoch weniger um die konkrete Infektionsgefahr als um den Nachwuchs Sorgen. „Das große Thema ist aktuell die Frage: Welche Auswirkungen hat Corona auf den Spitzensport?“, sagt Unkelbach und mahnt: „In meinen Augen stehen wir jedoch kurz vor dem Kollaps des Nachwuchsleistungssports! Unsere Talente, unser Nachwuchs sind diejenigen, die am meisten unter der Situation leiden.“

Neben der fehlenden Kraftraum-Nutzung waren auch die Trainingsmöglichkeiten für Nachwuchssportler*innen lange eingeschränkt. „Wir halten das Angebot für die Bundeskaderathleten*innen gut aufrecht, aber die Kapazitäten der Trainer*innen sind endlich“, beschreibt Unkelbach das Dilemma. Dass nur in Kleingruppen trainiert werden durfte, schmolz die Hallenzeiten zusammen. „Die Trainer sind am Rotieren, sie schreiben Konzepte und stellen sich immer wieder auf neue Situation ein“, zieht Unkelbach den Hut. „Es fallen jedoch trotzdem Talente hinten runter.“

Wie es in den kommenden Monaten weitergeht, kann niemand sagen; langfristige Planungen macht man am OSP daher nicht. „Wir fahren auf Sicht, denn wir nähern uns dem Winter – und das wird sicherlich noch einmal eine Herausforderung“, sagt Unkelbach. Alltag wird am Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein also vorerst trotz aller Lockerungen nicht einkehren – und der Kraftraum weiter leerer als gewöhnlich bleiben.

Fotos: Beitragsbild: picture alliance / dpa | Daniel Bockwoldt, Ingrid Unkelbach: Julia Nikoleit

Julia Nikoleit

Julia Nikoleit ist freie Sportjournalistin und Autorin aus Hamburg. Neben ihrer Tätigkeit im Reporter- und Dienstleister-Netzwerk Medienmannschaft ist der Handball ihr Spezialgebiet. Nikoleit schreibt unter anderem für das Fachportal handball-world sowie die Handballwoche. 

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