Störgefühle bei Olympia
von André Keil [RINGE | ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]
Unternehme ich also den Versuch, diesem Störgefühl auf den Grund zu gehen. Was ist es, was viele von uns mit Olympia nicht mehr so richtig warm werden lässt? Diese mangelnde Wärme bezieht sich aber offensichtlich nur auf die Zeit zwischen den Spielen. Sobald olympische Wettbewerbe laufen, kennt die Faszination Olympia auch bei den Deutschen wenig Grenzen. Kaum sind die Spiele vorbei, kommt das Störgefühl zurück. Welche Gründe könnte es dafür geben?
Die deutsche Geschichtsaufarbeitung des letzten Jahrhunderts muss sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit dem Sport befassen. Olympia wurde von den Deutschen 1936 für Propagandazwecke genutzt und extrem politisiert. Auch in der Zeit der deutschen Teilung nach dem Krieg ist Olympia zum politischen Spielfeld der Systeme geworden. Erst ungeliebte gemeinsame Olympiamannschaften, dann zwei deutsche Olympiateams und zudem der Einsatz von enormen staatlichen Ressourcen, um den Sieg über den deutschen Rivalen auf olympische Bühne zu gewährleisten. Koste es, was es wolle. Von der Verarbeitung der deutschen Sportgeschichte der vergangenen hundert Jahre sind wir weit entfernt. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hatte der deutsche Sport viele Chancen, die eigene olympische Vergangenheit zu reflektieren. Keine wurde wirklich genutzt.
Dem anfänglichen Stolz über die vielen Medaillen folgte bald die Ernüchterung über die Enthüllung der Grundlagen der Erfolge im deutschen Sport und die unfassbaren Konsequenzen für viele Athleten. Zu dieser Zeit bekam der kritische Sportjournalismus einen gewaltigen Schub, er war es, der das systematische Doping in den Fokus rückte, der politische Zusammenhänge offenlegte, der Verfilzung von Sport und Politik thematisierte.
Das Erstarken des kritischen Journalismus hat sicher zu einer veränderten Beziehung der Deutschen zu Olympia geführt. An Bewerbungen zur Ausrichtung Olympischer Spiele hat es in den 30 Jahren nach der Wiedervereinigung ganz bestimmt nicht gemangelt. Aber jeder noch so kleine Ansatz von Korruption, Vorteilsnahme, Verfilzung, Bestechung wurde öffentlich gemacht und damit die über Jahrzehnte in der “Olympischen Familie” gewachsene Geschäftspraxis aus der Konspiration geholt. Die Deutschen schauen kritischer hin, wenn es um Olympia geht, in einem föderalen System ist es schwer, Kritik einfach weg zu “bügeln” und das ist ein unschätzbares Gut der deutschen Demokratie.
Zudem spielt Nachhaltigkeit eine ganz andere Rolle als noch vor einem halben Jahrhundert. Wenn die enormen Summen für Sportstätten und Infrastruktur im Zuge der Ausrichtung von Olympischen Spielen nicht auf eine Region und seine Attraktivität „einzahlen“, dann finden sich keine Mehrheiten. Und die sind in Deutschland notwendig – ein wichtiges Korrektiv unserer Gesellschaft.
International hat die politische Bedeutung Olympischer Spiele offensichtlich nicht nachgelassen. Viele Nationen nutzen diese Bühne zur Reputation und suchen den Erfolg um jeden Preis. Betrug, Manipulation und Wettbewerbsverzerrung sind an der Tagesordnung. Der kritische Journalismus ist auch hier wieder der Motor der Offenlegung. Der öffentliche Druck ist so hoch, dass der internationale Sport Nationen nur noch sanktionieren kann. Das Vertrauen der Menschen in die Glaubwürdigkeit des Sports geht dahin, in Deutschland ist das vielleicht durch die öffentliche Kritik stärker ausgeprägt als anderswo. Zumindest sorgt das für dieses Störgefühl, bestärkt durch die Skurrilität von neu zu erstellenden Siegerlisten viele Jahre nach den eigentlichen Wettbewerben. Was sagt das über den Sport aus, wenn der wirkliche Sieger erst Jahre später feststeht? Was ist mit der Faszination des Augenblicks durch die herausragende sportliche Leistung, wenn die Frage bleibt, ob die Zukunft nicht einen skrupellosen Betrug zutage fördert?
Und dann wäre da noch die stetig größer werdende Ambivalenz bei der grundsätzlichen Betrachtung des Olympischen Geistes. Dem würde eine Renaissance guttun. Der Umstand, dass Olympische Spiele ein gigantisches Geschäft sind, ist das eine. Athleten geben bei der Beachtung der “Allgemeinen Geschäftsbeziehungen“ bei Olympischen Spielen ein gutes Stück ihrer Mündigkeit auf, für sie geht es ja um viel mehr als den Wettbewerb an sich. Eine olympische Medaille ist mittlerweile eine Währung, sie kann Existenzen sichern und über Lebenswege entscheiden. Wie ist das denn mit dem beschworenen Olympischen
Geist vereinbar? Schon wieder ein Störgefühl.
André Keil ist 1. Vizepräsident des Verbandes Deutscher Sportjournalisten und
Studioleiter des Landesfunkhauses Schwerin. Für die ARD berichtete Keil mehrfach von Olympischen Spielen. Keil ist ambitionierter Segelsportler.