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Die Paralympics wirken

Wie nachhaltig sind die gefeierten Paralympischen Spiele von Paris? Wann wird die ‚neue Normalität‘ endlich schlicht normal? Oder ist sie es schon? Auch ein Blick auf die Special Olympics in Berlin hilft bei der Einordnung.

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

Von Gerd Graus

 

Oh Champs Elysees, oh Paris. Frankreichs Weltmetropole hat wieder einmal jeden bezaubert, der sie besucht oder auch nur gesehen hat. Aber, war das wirklich Paris? Paris hat die Kulisse geliefert, das Bühnenbild, die Orchester – die Hauptdarsteller*innen aber waren andere: die Sportler*innen bei den Olympischen und Paralympischen Spielen, die Volunteers und auch, unbestritten, bei den Eröffnungs- und Abschiedsspektakeln die beinahe unzähligen Stars. Und, klar, nicht zu vergessen: der Ballon, dieses temporäre Wahrzeichen, der Ring mit dem Feuer.

Aber, was bleibt? Erinnerungen, die auf jeden Fall. Wundervolle Erinnerungen. Und salbungsvolle Worte. Nicht die von den besten Spielen ‚ever‘, die fast immer zum Entzücken der Gastgeber zu hören sind. Eher solche wie die von Andrew Parsons, dem Präsidenten des Internationalen Paralympischen Komitees. Er hoffe, sagte er in der Stadt, die Inbegriff ist für die wohl bekannteste Revolution der Geschichte, die Paralympics würden „eine Revolution der Inklusion“ auslösen.

Nun ist nicht zu hoffen, dass er damit einer Welle der Gewalt auslösen möchte, sondern eher auf einen friedlichen, aber rasanten Wechsel setzt. Einen Bewusstseinswandel in den Köpfen all der trägen Arbeitsgruppen, die Städteplanung betreiben, Sportstätten planen, Schulen, Theater, Bahnhöfe, Flughäfen und so vieles mehr, wo die Bedürfnisse der Menschen mit Beeinträchtigungen noch immer nicht genügend beachtet werden.

Berlin plant den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark zu einem inklusiven Vorzeigeprojekt umzugestalten. Dafür ist der Abriss des alten Stadions notwendig, das in den letzten Jahrzehnten schon viele Umbauten erlebt hat, schadstoffbelastet ist und alles andere als barrierefrei. Kritiker des Abrisses begründen ihre Gegenwehr neben ihrer Skepsis gegen eine tatsächlich, vollumfänglich inklusive Neugestaltung auch mit dem Argument, das zigfach veränderte Stadion – auch nach dem Mauerfall – sei ein Zeugnis der Ostmoderne.

Wieder Gold: Weitspringer Markus Rehm triumphierte einmal mehr über die Konkurrenz.

 

Was bewirken Paralympische Spiele, gerade die gefeierten und umjubelten von Paris? Rücken wirklich die Menschen in den Mittelpunkt, die durch ihre außergewöhnlichen Leistungen darauf hinweisen, dass, um Spitzenleistungen, auch solche im Alltag, vollbringen zu können, Veränderungen notwendig sind? Auch solche, eigene Interessen zu hinterfragen und über die Bedürfnisse von anderen nachzudenken und in eigene Überlegungen einzubeziehen?

Die Kraft dazu haben Spiele wie die von Paris, haben die Menschen, die die Spiele gestaltet und so begeisternd haben werden lassen. Vielleicht stimmen sie die Verantwortlichen von ARD und ZDF nachdenklich, warum sie die Schlussfeier der Paralympics nicht übertragen haben, die der Olympischen Spiele aber wohl live in den Öffentlich-Rechtlichen zu sehen war. Ein besseres Argument als auf den Live-Stream zu verweisen, sollte ihnen da schon einfallen.

Meine zehn Jahre alte Tochter hat die Übertragungen der Paralympics mit Begeisterung verfolgt und voller Hochachtung von den Sportler*innen gesprochen – jeden Tag auch mit ihren Klassenkameradinnen. Ihr verwundertes Gesicht, als ich ihr erklären musste, dass es nicht ausreichen würde, den Fernseher einzuschalten, um die Schlussfeier zu verfolgen – was sie unbedingt wollten, um all die tollen Sportler*innen noch ein letztes Mal zu sehen, und was ihr deshalb auch erlaubt wurde – weil da ein Krimi und nicht die Feier aus Paris zu sehen war, drückte aus, was Paralympische Spiele, und vor allem das Sichtbarwerden der Persönlichkeiten, schaffen: Normalität für Menschen mit Beeinträchtigung und Verwunderung, warum sie doch keine Normalität erfahren.

Nachdenken, nachfragen und eine Normalität in das eigene Leben mitnehmen, die für die Entscheider in den TV-Etagen wahrscheinlich noch eine „neue“ Normalität ist. Das wird bleiben von den Paralympics, das bewirken sie. Sie helfen dabei, sich selbst zu überführen, dass wahrscheinlich noch Überreste alten Denkens vorhanden sind und den schwierigen Prozess der eigenen Veränderung anzustoßen.

Großer Empfang: Annika Zeyen-Giles feiert ihre erneute Bahnrad-Bronzemedaille im Deutschen Haus – und wird gefeiert.

 

Wie langwierig so ein Prozess sein kann, haben die Weltspiele der Special Olympics im vergangenen Jahr in Berlin gezeigt. Menschen, den Zugang zum Alltagsleben eröffnen, Aufmerksamkeit schaffen für ihre Herausforderungen – dieselben Aussagen, waren schon in einem 30 Jahre alten Beitrag des damaligen Sender Freies Berlin über Sportler*innen mit geistiger Beeinträchtigung zu hören.

In 30 Jahren hat sich dennoch einiges getan: Tausende Athlet*innen feierten in Berlin ihre Weltspiele, ihre Leistungen wurden öffentlich, es kam zu unerwarteten Begegnungen. Die Einschaltquote des heutigen rbb bei der Live-Übertragung der Eröffnungsfeier aus dem Olympiastadion überraschte selbst die härtesten Quotenjäger. Und heute wird stärker denn je gefordert, dass Sportvereine Angebote für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung machen und die Voraussetzungen für Übungsleitende verbessert werden. Special Olympics hat Gehör gefunden.

Auch die Paralympics wirken. Sie erreichen Menschen, sie schaffen Emotionen, sie bringen Veränderung. Vielleicht nicht so schnell wie sich manche Kommentator*innen dies erträumen. Aber auf jeden Fall langfristig. Bei meiner Tochter und ihren Freundinnen, die durch Paris zum ersten Mal paralympischen Sport intensiv erlebt haben, bin ich davon felsenfest überzeugt.

 

Der ehemalige Sportjournalist Gerd Graus, der als Medienchef unter anderem auch in der Bundesliga bei Hertha BSC, der Fußball-WM 2006 und beim DOSB aktiv war, blickt als ehemaliger Director Media & Broadcast der Special Olympics auf die Paralympics. Graus, Mitbegründer dieses Portals, arbeitet heute als Pressesprecher und Leiter Kommunikation für den Landessportbund Berlin.

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