Home-Office. Home-Schooling. Home-Training!
von Frank Schneller [GESELLSCHAFT | MENSCHEN]
Diese Pandemie verändert nahezu alles. Mitunter auch Inneneinrichtungen. Im Hause der Familie Ende im mittelfränkischen Lauf an der Pegnitz ziert seit einiger Zeit eine Mini-Tischtennisplatte das Wohnzimmer. Nein, der Esstisch, um den sich die vierköpfige Sportlerfamilie regelmäßig versammelt – auch schon vor der Coronakrise – wurde nicht seiner Bestimmung enthoben. Er ist noch immer ein wichtiger Treffpunkt für Mutter Verena, Vater Udo und die beiden Töchter, Amelie und Antonia. Aber er hat zumindest Konkurrenz bekommen, wenn es um inhäusige Geselligkeit geht: Am Minitisch in grün findet tagtäglich familiärer Austausch statt. In Form von wilden Ballwechseln. Normalerweise schmettern und retournieren sich Endes in ihrer knapp bemessenen Freizeit die kleinen weißen Bälle draußen im Garten um die Ohren. An der Tischtennisplatte in Originalgröße. Da der Corona-Lockdown aber trotz der aktuell sich anbahnenden Lockerungen zunehmend endlos erscheint und das Wetter im Winter nun mal kein verlässlicher Komplize ist, wurde das Arsenal an Utensilien, mit denen auch in der guten Stube trainiert werden kann (Boxsack, Schlingentrainer, Balance-Board, Koordinationsleiter, Hanteln, Gewichte, Medizinbälle, …), um ein weiteres Möbelstück erweitert. „Eine richtig gute Anschaffung“, finden die Vier unisono.
Nicht nur am grünen Tisch: Endes sind ein äußerst sportliches Quartett. In ihrem Leben dreht sich zwar nicht alles, aber eben doch sehr viel um Sport. Mutter Verena ist Hobby-Tennisspielerin. Vor Corona und bisweilen auch noch im vergangenen Sommer, als die Infektionszahlen niedrig und die Einschränkungen überschaubar waren, konnte sie mit ihrer Mannschaft, den Ü40-Damen des TV 1877 Lauf, am Spielbetrieb teilnehmen. Vater Udo, früher ein exzellenter Handballtorwart (u.a. 2. Bundesliga) und inzwischen Trainer, hat viel für die Handballer des Städtchens geleistet und coacht mittlerweile die Frauen im Nachbarort Diepersdorf.
In dieser Mannschaft wirbelte jüngst auch Tochter Amelie bereits mit. Dabei spielt die 17-Jährige in der A-Jugend. Ihr Talent und ihr Elan jedoch qualifizieren sie per Doppelspielrecht auch für die Bezirksliga-Truppe des Vaters. Allerdings geht ihr durch die Covid-19-Krise eines dieser zwei wertvollen Jahre nun verloren. Außerdem spielt Amelie gut Tennis. Nebenbei. Und dann ist da noch Antonia. Die 14-Jährige gilt als große Tennis-Nachwuchshoffnung, gewann zahlreiche Bayerische Meisterschaften und hinterlässt regelmäßig auch bei den ‚Deutschen’ ihre Visitenkarte. Die für den TSV Altenfurt startende Kaderspielerin des Bayerischen Tennisverbandes, nebenbei – natürlich – auch eine gute Handballerin bei der SpVgg Diepersdorf – tritt nicht nur in ihrer Altersklasse an, sondern mischt auch schon im Damentennis erfolgreich mit.
Antonia ist aufgrund ihres Kader-Status’ derzeit jedoch die Einzige aus der Familie, die sich noch im Trainingsbetrieb befindet. Für alle anderen nämlich gilt derzeit noch (immer): Nichts geht mehr. Und das schon seit Ende Oktober. Zuvor war phasenweise wenigstens so etwas wie ‚organisierter Sport light’ möglich. Abhängig von den Infektionszahlen.
Es gab Lehrgangsmaßnahmen, Infektionskontakte, Zwangsquarantäne, Verunsicherungen, Entwarnungen – zwischen Schule und Tennislehrgang landeten die Schwestern dreimal in der Isolation. Angesteckt hat sich glücklicherweise keine von ihnen. Und jetzt? Die Handballsaison: Abgebrochen. Tennis-Turniere: Fehlanzeige. Soziale Kontakte wie man sie gewohnt war: Auch keine. Aussichten auf eine zeitnahe Rückkehr zur Normalität, wenigstens auf ein paar Lockerungen? Gering, oder zumindest noch nebulös. Da erfordert es eine riesige Portion Eigenmotivation und Durchhaltevermögen, nicht in den kollektiven Corona-Blues zu verfallen, zumal der zweite Lockdown viel härter, viel zäher erscheint als der erste. „Die Zeit vergeht viel langsamer in der dunklen, kalten Jahreszeit. Es hieß ja, die Pandemie sei wie ein Marathon. Ich habe das Gefühl, ich laufe schon den dritten“, schildert Amelie, die wie ihre Schwester freilich auch seit Wochen und Monaten keinen Präsenz-Schulunterricht mehr an ihrem Gymnasium hatte. „Ich vermisse das schon sehr“, sagt der Teenager.
„Diesmal fühlt es sich alles schwerer an“, sagt auch Vater Udo. Er spricht sogar von einem „Riesenunterschied“ im Vergleich zur ersten Schließung, „damals steuerten wir auf den Frühling zu und draußen konnte man dann halt doch noch vieles machen. Im dunklen Winter aber fehlen diese Optionen“. Seit über einem Jahr ist Familie Ende, ist ganz Deutschland, aus dem Alltag gerissen. Die Folgen – auch für den Sport – sind hochproblematisch.
71 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland fühlen sich durch die Pandemie und den Lockdown belastet. So lautet das Ergebnis einer Corona- und Psyche-Studie (COPSY) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. „Sport im Verein ist die wichtige Basis für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Gesundheit ist sozusagen der ‚Identitätsanker’ des Sports; die Sportvereine nehmen dabei die Rolle einer gesundheitsfördernden Lebenswelt ein“, erklärt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB). Die Studie verrät, dass sich zuhause mitunter auch mehr gestritten wird. „Das Streitpotential nimmt schon zu“, räumt Amelie ein, „die Toleranzschwelle nimmt dagegen ab“. Ab und zu gehe man sich schon auf den Wecker.
Allerdings sind die vier Endes nicht wirklich repräsentativ. Ihr Verantwortungsbewusstsein und die hohe Sozialkompetenz, vor allem auch die der beiden Töchter, machen sie – um beim Sport zu bleiben – zu einem guten Team. „Wir meistern die Situation schon gut, kriegen unsere Abläufe zuhause ohne allzu große Beeinträchtigungen geregelt“, sagt Mutter Verena, „wir sind uns allerdings auch dessen bewusst, dass wir absolut nicht zu den Härtefällen gehören, sondern ziemlich privilegiert sind. Andere haben es viel schwerer“. Was die Juristin meint: Sie und ihr Mann, Team-Manager in einem Software-Entwicklungsunternehmen in Nürnberg, haben ihre Jobs behalten. Verena arbeitete schon vor der Krise in ihrer Kanzlei unter dem eigenen Dach. Und ihr Mann hat sich mit dem Home-Office nun halbwegs arrangiert. Die Vier bewohnen ein Einfamilienhaus, haben Platz und einen kleinen Garten. Die Kids machen es ihren Eltern vergleichsweise einfach: Schulisch wie sportlich legen sie ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Ehrgeiz an den Tag.
Alle bleiben in Bewegung: Für die Eltern heißt das Aerobic, Walking und Fahrradfahren. Für die Mädels gemeinsames Medizinballtraining mit dem Papa und die ein- oder andere Joggingtour. Außerdem: Jede Menge Home-Training. Ausreichend ‚Folter’-Equipment ist – siehe oben – ja vorhanden im heimischen Gym. Dazu wöchentliche Online-Fitness-Sessions vor dem Bildschirm mit der Handballmannschaft des Vaters, die ein entsprechendes Programm in Eigeninitiative erstellt hat (Amelie: „Das macht Spaß und ist ein guter Klebstoff in Zeiten, in denen man sich nicht beim Training treffen kann“). Zwar fehle ihr das handballspezifische Training, „aber ich bin insgesamt echt fitter als früher“, sagt die 17-Jährige, „zehn Kilometer konnte ich vor der Corona nicht laufen“.
Obendrein hat sich zunächst die ganze Familie in eine 30-tägige Yoga-Challenge begeben. Nur Antonia war das auf Dauer zu „ruhig“. So viel Entschleunigung ist nichts für sie – sie stieg aus. Ist aber auch kein Wunder. Denn die Jüngste hat ohnehin das vollste Programm von allen: Ihre Tennis-Einheiten bekommt sie weiter. Sechsmal pro Woche sogar. Sie hat sich vergleichsweise am besten eingerichtet. „Da Home-Schooling weniger Zeit in Anspruch nimmt als der normale Schulalltag habe ich mehr Raum fürs Training. Mehr als sonst sogar.“ Ihr taugt der neue Rhythmus, wenngleich sie zugibt: „Der Turnierbetrieb und der Austausch dort fehlt mir schon auch sehr.“ Dagegen liegt im reinen Trainingsbetrieb auch ein Vorteil – was die Übungsinhalte angeht: „Ohne die Spiele und Turniere und deren Vor- und Nachbereitung kann ich technische Verbesserungen und Umstellungen spezifischer trainieren. Ohne Unterbrechungen.“
Die 14-Jährige kann sich sportlich in – beinahe – vollen Zügen weiterentwickeln, sieht man von den wichtigen Erfahrungen ab, die nur der Spielbetrieb mit sich bringt: Jeden Mittwoch wird sie zum Stützpunkttraining nach Bayreuth gefahren. Hinzu kommen – derzeit – freiwillige Kader-Maßnahmen in Oberhaching. All das freilich geht nur mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen. Da sich während ihrer Einheiten nur jene in der Halle aufhalten dürfen, die wie sie in der höchsten Leistungskategorie eingestuft wurden, sind diese „fast wie zu einer Art Familie geworden“, erklärt Antonia. Dies helfe schon etwas über den fehlenden Kontakt zu den Schulfreudinnen hinweg. Das junge Tennis-As kann so etwas jedoch als sehr persönliches Empfinden und daher als nicht allgemeingültig einordnen. Sie ist sehr selbstreflektiert.
Zumal sie mit der Kehrseite bereits mehrmals konfrontiert wurde: Während sie als Kaderspielerin in die heimische Tennishalle geht, machen weniger privilegierte Spielerinnen draußen in der Kälte auf dem Parkplatz spartanische Übungen, die höchstens als Notlösung durchgehen. Ihnen ist der Zutritt ins Trainingszentrum verwehrt. „Das ist echt bitter zu sehen“, sagt Udo über die harte Spitzensportschranke. Dazu noch all die anderen sozialen und schulischen Einschränkungen und Verbote: „Es ist so fatal, wie viel dem Nachwuchs derzeit genommen wird“, führt er weiter aus. Sein Bewusstsein, wie schlecht andere Menschen dran sind, habe deutlich zugenommen im zweiten Lockdown. „In unserer A-Jugend-Mannschaft geht es einigen nicht gut – der Teamspirit könnte da sicher helfen, fällt aber weg“, bestätigt Amelie die schwierige Situation, die immer mehr an den Nerven zehrt: Die Hamburger COPSY-Studie besagt – u.a. –, dass sich „bei 39% der Kinder und Jugendlichen durch eingeschränkte persönliche Kontakte sogar das Verhältnis zu Freund*innen verschlechtere“. 27% berichteten, sich häufiger zu streiten. Weitere Zahlen sind nicht minder alarmierend: Im Vergleich zu vor der Corona-Pandemie vermehrt psychosomatische Beschwerden: Gereiztheit (54% versus 40%), Einschlafprobleme (44% versus 39%), Kopfschmerzen (40% versus 28%), Niedergeschlagenheit (34% versus 23%) und Bauschmerzen (31% versus 21%). Das Risiko für psychische Auffälligkeiten stieg von rund 18% auf 30% …
Familie Ende ist fest entschlossen, durchzuhalten. Zwar sagt Verena: „Die ersten Monate hat man noch als gemeinsame Herausforderung an- und wahrgenommen. Aber jetzt werden alle müde.“ Doch am Ende siegt die Zuversicht. „Ich weiß zwar nicht, wie ich mich genau fühlen werde, wenn wir in eine gewisse Form der Normalität zurückkehren. Ohne ein sichtbares, anzuvisierendes Datum kann man das nicht richtig vorempfinden. Aber ich denke schon, dass es eine große Erleichterung sein wird“, erklärt Amelie.
Bis dahin wird weiter improvisiert. Handballcoach Udo beispielsweise, eigentlich kein großer Freund des Beachhandballs, betrachtet die Sandspiele unter freiem Himmel unter den gegebenen Umständen als fast schon willkommene Option für seine Handballdamen, „vielleicht ist es kurz- und mittelfristig ja sogar der einzige Hoffnungsschimmer“. Und dann, irgendwann, wird Corona seinen Schrecken hoffentlich verloren haben. Das Leben und den Sport aus der Gefangenschaft entlassen. „Bis dahin werden wir halt so vorsichtig und auch demütig sein, wie es die Lage erfordert. Wir halten zusammen“, sagt Verena. Sie kommt gerade aus dem Home-Office und hat es etwas eilig. Vor dem gemeinsamen Abendessen ist noch ein Tischtennisturnier im Wohnzimmer geplant. Und Antonia steht fürs erste Halbfinale mit dem Schläger in der Hand schon an der Platte.
Fotos: Beitragsfoto: picture alliance / ZB | Jens Kalaene | weitere Fotos: privat
Frank Schneller (51), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.
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