Hans Wilhelm Gäb: Boykott trägt nicht dazu bei, Spannungen abzubauen
ein Interview von Hans-Joachim Lorenz [RINGE | MENSCHEN]
Olympisches Feuer: Die USA rufen dazu auf, die Winterspiele Tokio 2022 zu boykottieren wegen der massiven Verletzung von Menschenrechten in China und der Unterdrückung der demokratischen Opposition in Hongkong. Sollte der Weltsport diesem Aufruf folgen und welche Folgen ergäben sich daraus?
Hans Wilhelm Gäb: So sehr die Menschenrechtsverletzungen in China auch empören müssen – ich halte es für falsch, den Sport zu einer Waffe der Politik zu machen. Alle demokratischen Gesellschaften treiben Handel mit China und anderen Diktaturen, unsere großen Konzerne wie etwa Siemens, Volkswagen und Daimler haben einflussreiche Anteilseigner aus autoritär geführten Ländern. Auf dem Rücken des Sports und der Athleten dürfen nicht Erwartungen abgeladen werden, denen demokratische Regierungen selbst nicht genügen können. Am Ende würde ein Boykott sicherlich nicht dazu beitragen, die Spannungen in der Welt abzubauen.
Olympisches Feuer: Stichwort; Sommerspiele in Tokio in diesem Jahr. Das IOC und die japanische Regierung wollen trotz Pandemie auf jeden Fall veranstalten. Worum geht es Ihrer Meinung nach? Um die olympische Idee oder die TV und Sponsorengelder in Milliardenhöhe zu retten? Leere Stadien und Hallen, ausländische Besuche nicht zugelassen. Die Athleten in der Blase. Ist das alles vertretbar?
Hans Wilhelm Gäb: Was wäre besser in der Welt, wenn die Olympischen Spiele, bei denen immerhin Menschen aus der ganzen Welt beweisen, dass man miteinander friedlich und nach Regeln wettstreiten kann, nicht stattfinden würden?
Olympisches Feuer: Wie steht es in Pandemie-Zeiten um gleiche Voraussetzungen für die Athleten im Zusammenhang mit Impf- und Trainingsmöglichkeiten , Qualifikationen usw. ?
Hans Wilhelm Gäb: Gleiche Bedingungen für Athleten aus unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen politischen Systemen und unterschiedlich wohlhabenden Ländern hat es noch nie gegeben, der Sport kann das nicht ändern, und eine Pandemie wird das Ungleichgewicht eher verstärken.
Olympisches Feuer: Begibt sich der internationale Sport in eine scheinbar unauflösbare Abhängigkeit seiner Finanzierung durch TV und Sponsorengelder?
Hans Wilhelm Gäb: Der Sport muss sich nicht in diese Abhängigkeit begeben, er steckt in dieser Abhängigkeit seit Jahrzehnten fest. Angesichts der Tatsache, dass heute nur die wenigen Sportarten Geld und Sponsoren anziehen, die als medientauglich gelten, von den Medien forciert werden oder große Zuschauermengen anziehen, würde es mit der Vielfalt des olympischen Sports schnell vorbei sein. Denn aus den durch Sponsoren- und TV-Zahlungen gefüllten Geldtöpfen des IOC finanzieren sich ganz wesentlich zahlreiche internationale Sportverbände, die nicht im Geld schwimmen. Ob Rudern oder Tischtennis, ob Fechten oder Hockey, ob Rodeln oder Schwimmen – die Unterstützung solcher Sportarten ist eben auch von einer erfolgreichen Finanzpolitik des IOC abhängig. Bei aller oft berechtigten Kritik am Olympischen Komitee bei Themen wie etwa Doping oder Umgang mit Athletenrechten – man muss diese positive Tatsache eben auch sehen.
Olympisches Feuer: Der DOSB hat durch Präsident Hörmann gesagt, dass Deutschland in jedem Fall in Tokio mit einer Mannschaft antreten will, hat es aber den Athleten frei gestellt, persönlich über eine Teilnahme zu entscheiden. Ist das wirklich eine freie Entscheidung, weil sie bei einer Absage aus der finanziellen Förderung fallen könnten?
Hans Wilhelm Gäb: Mir wären Überlegungen, deswegen die Förderung von Athleten einzustellen, völlig fremd. Die Deutsche Sporthilfe als der sicher wichtigste Förderer der Olympioniken hat solche Erwägungen noch niemals angestellt.
Olympisches Feuer: Wie steht es um die Motivation des leistungsbereiten Nachwuchses in Anbetracht des Wegfallens von nationalen und internationalen Wettkämpfen wegen Corona. Wie kann man den Nachwuchs bei der Stange halten, Perspektiven eröffnen?
Hans Wilhelm Gäb: Wer die Freude an der Leistung und das echte Sportler-Gen in sich hat, wird nicht aufhören. Aber ganz sicher wird es im Leistungssport auch Talente geben und schon gegeben haben, die sich anderen interessanten Lebensbereichen zuwenden oder das schon getan haben. Und Perspektiven zu eröffnen, wenn Sporthallen und Plätze geschlossen sind, das ist eine Kunst, die wohl nur wenige unserer vielen ehrenamtlichen Helfer beherrschen werden.
Olympisches Feuer: Der Breiten- und Vereinssport hat es zur Zeit wegen der Pandemie sehr schwer. Wegfallende Angebote , Mitgliederschwund . Wie kann man gegensteuern?
Hans Wilhelm Gäb: Ganz sicher ist die Pandemie für den Breitensport, Schulsport und die Sportvereine ein schwerer Schlag, den viele Vereine ohne Hilfe der öffentlichen Hand auch wirtschaftlich kaum bewältigen können. Ein echtes Gegensteuern oder zumindest eine Stabilisierung der Vereine, das wäre wohl nur mit Hilfen der öffentlichen Hand möglich.
Im Augenblick jedenfalls ist Covid 19 ein Schlag, der den Sport der Millionen in den Vereinen zutiefst erschüttert und damit einen entscheidenden Pfeiler im Fundament einer friedlichen Zivilgesellschaft in Deutschland ins Wanken bringen kann. Das Miteinander in den 90 000 deutschen Sportvereinen, in denen man Respekt vor den Menschen anderer Religionen, anderer Meinung und anderer Hautfarbe lernt und vor allem auch davor, dass Leistung und menschliche Qualitäten nicht von solchen Unterschieden abhängig sind, das ist eine Schulung in Demokratie, für die ich keinen Ersatz kenne. Die Politik macht leider nicht den Eindruck, dass sie diese Bedeutung in vollem Umfang erkannt hat.
Olympisches Feuer: Aus Berlin kam der Vorschlag für eine gemeinsame Bewerbung Berlin/Tel Aviv für Olympische Spiele 2036. Konstruktiv oder plakativ?
Hans Wilhelm Gäb: Die Idee einiger Politiker aus der zweiten Reihe mag auf den ersten Blick aus deutscher Sicht faszinierend klingen und hier auf viele Bürger, die den Massenmord an den Juden nicht vergessen haben, sympathisch wirken. Ob die israelische Zivilgesellschaft diesen Vorschlag positiv aufnehmen würde, möchte ich aber sehr bezweifeln. Denn es wären am Ende doch Spiele der Deutschen, sie wären hauptsächlich wohl in Berlin, und das alles würde keine Gleichgewichtigkeit bedeuten, sondern erneut deutsche Dominanz. Ich bin mir auch recht sicher, dass die internationale Presse diese Idee als vordergründigen deutschen Versuch werten würde, sich mal wieder als moralisch vorbildlich darzustellen.
Fotos: Beitragsbild: picture alliance / Stiftung Deutsche Sporthilfe | Ben Kilb
Hans-Joachim Lorenz ist Vizepräsident Kommunikation / Werbung der Deutschen Olympischen Gesellschaft e.V. (DOG)
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