“Ich war positiv überrascht”
Von Hannes Aigner (aufgeschrieben von Julia Nikoleit) {RINGE | MENSCHEN]
Ich hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen, wegen der Corona-Pandemie auf einen Start in Tokio zu verzichten. Natürlich waren die Spiele unter diesen Bedingungen ein schwieriges Thema und es ist richtig, dass die Diskussion im Vorfeld geführt wurde. Ich verstehe auch das Für und Wider, aber ich bin ein Sportler, der fünf Jahre trainiert hat, um dabei zu sein. Ich wusste: Die Olympischen Spielen werden stattfinden – entweder mit mir oder ohne mich. Und dann wollte ich natürlich dabei sein.
Ich bin allerdings, das muss ich gestehen, mit den schlimmsten Erwartungen hingeflogen. Wir hatten im Vorfeld ein Trainingslager an der Olympia-Strecke und waren dafür eine halbe Stunde vom Olympischen Dorf entfernt in einem Hotel untergebracht. Das war sehr, sehr einsam und es war auch langweilig, zwischen den Einheiten allein auf dem Zimmer herumzuhängen. Allerdings wollte ich mich an die Regeln und Anweisungen halten, damit es keine Probleme gibt. Diese Tage waren nichtsdestotrotz ziemlich anstrengend, auch mental.
Als wir nach zwei Wochen ins Olympische Dorf umgezogen sind, war es auf einen Schlag viel angenehmer. Wir konnten unsere Zimmer verlassen und hatten Abwechslung, weil wir die anderen Sportler im Dorf beobachten konnten. Ich finde es großartig, dass bei Olympia Länder in Kontakt kommen, die sonst nichts miteinander zu tun haben oder sich vielleicht sogar nicht so wohlgesonnen sind. Sport ist eine Kommunikation auf anderer Ebene, das ist bei Olympia immer wieder großartig. Natürlich haben wir dieses Jahr Masken getragen, aber es war trotz Corona ein Austausch untereinander möglich. Wir konnten wie immer Pins tauschen und auch die Spielhalle war eingerichtet. Ich war positiv überrascht, denn ich hätte nicht gedacht, dass solche Dinge bei diesen Spielen möglich sein würden.
Auch mit einer Eröffnungsfeier, an der wir teilnehmen können, hätte ich unter diesen Umständen nicht gerechnet. Es war schon cool, bei diesem Startschuss für die Olympischen Spiele dabei zu sein. Aufwand und Nutzen waren allerdings grenzwertig. Wir haben im Vorfeld zwei Stunden herumgestanden, sind eingelaufen und wurden dann direkt wieder in den Shuttlebus zurück ins Dorf gesetzt. Das war kein Vergleich zu der Eröffnungsfeier in London, die ich richtig, richtig gut fand. Damals sind die Space Girls und Paul McCartney aufgetreten und man hatte das Gefühl, dass jeder dabei war, der Rang und Namen hatte. Das war hier anders – allerdings ist uns die japanische Kultur auch nicht so nah wie Großbritannien.
Natürlich spielte dabei auch die Sprachbarriere eine Rolle, denn du verstehst wirklich nichts – und kannst ja auch nichts lesen. Da wir allerdings schon einmal im Trainingslager in Tokio waren, noch vor Corona, habe ich gewusst, was uns vor Ort erwartet. Damals war die Stadt bereits auf die Spiele gebrandet – so, wie es auch in London 2012 war – und die Bevölkerung hat sich auf die Spiele gefreut. Und obwohl man natürlich von den Protesten gegen Olympia gelesen hat, habe ich die Japaner als wahnsinnig freundlich wahrgenommen. Ich finde es immer wieder großartig, dass bei solchen Events so viele Volunteers mithelfen, um das Erlebnis für die Sportler so schön wie möglich zu machen. Ohne diese freiwilligen Helfer wären die Spiele in London, Rio oder Tokio nicht umzusetzen gewesen.
Ich habe mich in Tokio übrigens wesentlich sicherer gefühlt als zu Hause, was die Ansteckungsgefahr angeht. Es wurden ja nicht nur von allen Masken getragen, sondern es wurde auch jeder Teilnehmer täglich getestet. Wir mussten die Speichel-Tests zwar selbstständig durchführen und abgeben, aber ich gehe davon aus, dass sich die meisten auch strikt an diese Vorgabe gehalten haben. Die Motivation war ja bei uns allen groß: Wir haben jahrelang auf diesen Moment hintrainiert – und wenn man sich ansteckt oder als Kontaktperson identifiziert wird, ist man raus. Das war für alle ein größerer Anreiz, die Vorschriften einzuhalten, als das vielleicht zu Hause für Menschen gilt, denen man beim Einkaufen oder in der Bahn begegnet. Daher hatte ich hier nie das Gefühl, mich von allen Menschen im Dorf distanzieren zu müssen.
Viele Athleten haben gesagt, dass sie es schade finden, dass in Tokio keine Zuschauer zugelassen waren. Natürlich wäre das schön gewesen, aber für unseren Wettkampf hat es eigentlich keinen großen Unterschied gemacht. Wir sind zum einen ohnehin nicht der Sport, zu dem die großen Massen strömen, und zum anderen müssen wir auf dem Wasser sehr konzentriert sein. Da ist es gar nicht unbedingt schlecht, wenn nicht so viel Trubel herrscht. Über die Lautsprecher wurde neben der Musik hin und wieder Jubel eingespielt, sodass man zwischenzeitlich auch das Gefühl hatte, dass mehr Menschen am Kanal sind als es tatsächlich der Fall war.
Mit meinem sportlichen Abschneiden bin ich nach der anfänglichen Enttäuschung sehr zufrieden. Natürlich kann man es immer noch besser machen, wenn man „nur“ eine Bronzemedaille holt, und ich hätte im Finale sicherlich einen besseren Lauf fahren können, aber wenn man es andersherum betrachtet, waren in diesen Olympia-Zyklus nur zwei Athleten besser als ich. Es war zudem eine schwierige Strecke, die Temperaturen haben uns allen zu schaffen gemacht und es ist nicht leicht, seine Leistung in dieser Drucksituation auf den Punkt zu bringen – im Hinterkopf hattest du immer das Wissen, wie wahnsinnig lange du trainiert hast, um hier zu fahren. Außerdem muss ich aus meiner Perspektive sagen: Ich war dreimal bei Olympia und habe zwei Medaillen geholt – das hat in meiner Disziplin noch keiner in Deutschland geschafft.
Zu den Besonderheiten dieser Spiele gehörte übrigens auch die Vorschrift, dass man das Land nach seinem Wettkampf sofort verlassen muss. Nicht einmal zwölf Stunden, nachdem ich vom Wettkampf zurück ins Olympische Dorf gekommen war, saß ich schon im Flieger nach Hause, das war krass – und ein bisschen schade. Denn die wirklich interessanten Eindrücke nimmt man von Olympia oft erst nach seinem eigenen Wettkampf mit. Bei mir ist das so: Vor meinen Läufen bin ich gar nicht offen für die vielen Sinneseindrücke und habe auch relativ wenig Lust, mir andere Sportveranstaltungen anzusehen. Man ist schnell ein paar Stunden unterwegs, um sich etwas anzuschauen, was mit dem eigenen Wettkampf nichts zu tun hat. Das ist eine Zusatzbelastung, die ich vorher vermeide.
In London und Rio habe ich nach meinen Wettkämpfen aber natürlich die Möglichkeit genutzt, um bei anderen Sportarten vorbeizuschauen. Auch das Dorf mal zu verlassen und in die Stadt zu gehen oder die Partys, die es am Schluss gibt, machen so ein olympisches Erlebnis normalerweise aus. Das war dieses Mal alles nicht möglich, obwohl es natürlich gerade für die Athleten, die zum ersten Mal bei Olympia dabei waren, cool gewesen wäre. Ich muss für mich sagen: Nach einer so langen Zeit in Tokio war ich gar nicht so unglücklich, endlich wieder nach Hause zu fliegen. Und ich denke nicht, dass wir uns beschweren sollten, weil wir dieses oder jenes dieses Mal nicht miterleben konnten. Wir können alle einfach glücklich sein, dass die Spiele überhaupt stattfinden konnten.
Fotos: Beitragsfoto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Mickael Chavet | Text: picture alliance / SVEN SIMON | Frank Hoermann
Julia Nikoleit ist freie Sportjournalistin und Autorin aus Hamburg. Neben ihrer Tätigkeit im Reporter- und Dienstleister-Netzwerk Medienmannschaft ist der Handball ihr Spezialgebiet. Nikoleit schreibt unter anderem für das Fachportal handball-world und die Handballwoche. Für sportfrauen.net hat Julia Nikoleit ebenfalls schon Texte verfasst.
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