Vier kamen durch
von Frank Schneller [ALLGEMEIN]
17/28. Wer solche Zahlenkombinationen in der Handballberichterstattung bemüht, meint damit in der Regel entweder die erzielten Tore im Vergleich zu den Wurfversuchen. Oder die gehaltenen Bälle des Keepers (wenngleich das in diesem Fall ein Traumwert wäre) oder … – irgendeine Spielstatistik jedenfalls. 17/28 indes steht mit Blick auf die Handball-Europameisterschaft in der Slowakei und Ungarn für: 17 der insgesamt 28 nominierten Spieler der DHB-Auswahl trugen eine Covid-Infektion davon. 17! Allein in der deutschen Delegation. Plus drei weitere ‚positive‘ Fälle unter den Offiziellen, zum Beispiel Verbandspräsident Andreas Michelmann.
Aus dem ursprünglichen EM-Kader blieben nur vier Spieler übrig, die sich nicht ansteckten und das fragwürdige Turnier beenden konnten. Alle vier übrigens in früheren Pandemie-Phasen infiziert und genesen, wie zu vernehmen war. Das aber taugt wohl nur zur Anekdote, nicht als wissenschaftlicher Hinweis. Etliche nachnominierte Spieler konnten dem Hilferuf aus Bratislava von vornherein nicht folgen, weil sie ein positiver Test schon an der Reise in die Slowakei hinderte. Andere wiederum infizierten sich unmittelbar nach der Ankunft – oder kamen auf ein paar Minuten Einsatzzeit, ehe Covid auch sie in Quarantäne zwang.
Die Corona-EM – und als solche wird das Turnier leider in die Handballgeschichte eingehen – hatte bisweilen zynischen Unterhaltungswert. Witzig oder skurril, dass die zunächst positiv getestete deutsche Rückraumentdeckung Christoph Steinert aus Erlangen nach einem plötzlichen negativen Testergebnis im Spurt seinem Team hinterher hetzte und sich in der Halle mit teils geliehener Ausrüstung „spielfähig“ meldete. Witzig aber nur dann, wenn man außer Acht lässt, dass auch topfitte, junge Handballer – so unwahrscheinlich ein schwerer Krankheitsverlaufs bei ihnen auch sein mag – letztlich doch mit ihrer Gesundheit spielen. Übrigens: Steinert war einen Tag später dann wieder ‚positiv‘ und musste das 2G-Turnier vorzeitig beenden. Wie 14 weitere Teamkollegen – bei zwei anderen schlugen die Tests erst nach dem letzten Spiel gegen Russland an. Quasi auf dem Heimweg.
Exklusiv hatte die deutsche Delegation indes nur die extrem hohe Infektionswelle. Die Zahlen sind – wie auch in allen anderen Bereichen des derzeitigen Lebens in der Pandemie – nicht eindeutig, die Lage diffus. Delta-Regeln in Omikron-Zeiten – das konnte nicht wie gewünscht funktionieren. Als PCR-Tests nicht mehr alle zwei Tage sondern täglich durchgeführt wurden, war es zu spät. Während die Europäische Handball-Föderation (EHF) die Infektionen gerne zweistellig ausweisen möchte, haben Fachmedien wie handball-world.news längst – nämlich schon während der Hauptrunde – weit über 100 Corona-Fälle im Zusammenhang mit der EM recherchiert. Nahezu jedes Team musste umdisponieren, Spieler abschotten, nach Hause schicken und dafür andere nachnominieren.
Man stellt keine allzu steile These auf, wenn man diese Umstände dieser Kontinental-Meisterschaft für „unwürdig“ hält, die ‚Brot-und-Spiele‘-Diskussionen wieder in Schwung bringt, wie es mehrere Medien angesichts voller Hallen und fallender Masken taten. Am Rande bemerkt: Auch einige Kolleginnen und Kollegen erwischte es in der Slowakei und Ungarn. Noch weniger als die Aktiven bewegten sie sich in einer ‚Bubble‘ – auf die nämlich hatte der Veranstalter anders als in Tokyo verzichtet. The New Normal … 2G sollte es richten – für Spieler, Delegierte, Medien und Fans. Das Ergebnis ist bekannt, die Wucht von Omikron war es sowieso.
Sehenden Auges in eine Art Superspreader-Event – musste das sein? Geht es vielleicht gar nicht mehr anders? War die Handball-EM die Blaupause für die Haltung, man müsse „mit dem Virus leben“? Diskutabel.
Fraglos derweil ist die EM ein Beleg dafür, dass auch die bodenständige Sportart Handball längst wirtschaftlich getrieben ist. Es geht ums Geld. Vielleicht mag man es nicht ‚Big Business‘ nennen, aber viel Platz für Romantik bietet auch diese Sportart nicht mehr. Das an sich ist übrigens nicht als Kritik oder ewig gestriges Festhalten an alten Traditionen zu verstehen. Man muss sich dessen nur bewusst sein, wenn man auf ein Turnier wie dieses blickt – und sich fragen möchte: Was sollte das alles?
Europas oberster Handball-Chef Michael Wiederer, betonte, die EM sei trotz der zahlreichen Corona-Fälle in vielen Nationalteams sportlich wie organisatorisch gelungen. Der Wettbewerb trotz aller Beeinflussung niemals ernsthaft in Gefahr gewesen – ebenso wenig wie die Gesundheit der Spieler, da Omikron ja milder verlaufe, wie sein Generalsekretär Martin Hausleitner ergänzte. Wiedener sah derweil die „die größte Herausforderung in den verschiedenen Gesetzgebungen und Handhabungen in Bezug auf Corona in den beiden Gastgeberländern.”
Was aus dem Beamtendeutsch des EHF-Präsidenten aus Österreich, nachzulesen in einem Interview mit der ‚Handballwoche‘ während der EM, nicht herausklingt: Die Alternativlosigkeit zum Bleiben und Durchhalten, vor die man die jeweiligen Delegationen stellte, sollten diese an Abbruch gedacht haben – wie es übrigens auch die DHB-Auswahl kurzzeitig tat. Keine Teilnahme an der WM 2023, dazu die Heim-EM 2024 in Gefahr – so sah die Drohkulisse aus, die den wirtschaftlich ohnehin wenig potenten DHB realisieren ließ: Ein Rückzug hätte desaströse Folgen.
Also wurden Spieler nachbestellt. Immer wieder. The Show must go on. Wenngleich man festhalten muss: Alle Spieler kamen gern. Ermutigend immerhin, welche Breite – jedenfalls auf einem gewissen internationalen Niveau – der deutsche Handball doch vorzuweisen hat. Wie groß das Reservoir des erweiterten Nationalkaders tatsächlich ist, selbst wenn manche Limits weiter klar erkennbar bleiben.
Dass viele nachnominierte Spieler schon bei der Anreise damit rechneten, sich zu infizieren, sich aber dennoch bereit erklärt hatten, zu helfen – bzw. sich auch empfehlen zu können –, zeigt ebenfalls, dass die EM womöglich ein Wegweiser dafür ist, wie es mit internationalen Sport-Events weitergehen könnte: Augen zu und durch. „Leben mit dem Virus“.
Die Gefahr, schnell ins Zynische abzudriften, bleibt jedoch groß. Zumal der Handball ein selbstgemachtes Problem schon seit Jahren mit sich herumschleppt: Den inflationär vollen Terminkalender mit EM- und WM, jährlich abwechselnd. Plus Olympia alle vier Jahre. Die Folgen: Eine Entwertung jedes einzelnen Wettbewerbs – und Titels. Außerdem der körperliche Raubbau an den Protagonisten, zumal auch Vereinsebene aufgeblasene Wettbewerbe seit Jahren für Diskussionen und – überwiegend ungehörte – Beschwerden der Leidtragenden sorgen. Das Virus ist da nur noch ein Trigger für weitere Überlastungssorgen der Spitzenspieler*innen. Und es war ein Röntgenblick auf die Rücksichtslosigkeit mancher Funktionäre gegenüber den Aktiven.
Abschließend der Versuch eines sportlichen Blicks auf das deutsche Team. Sofern man der EM und dem Auftreten der DHB-Auswahl unter diesen Umständen überhaupt eine gewisse Aussagekraft einräumen möchte. Also bitte: Es gibt neue Hoffnungsträger, selbst wenn sie zum Teil nur kurzfristig im Einsatz waren. Der Gummersbacher Julian Köster natürlich, der bei guter Entwicklung und Gesundheit der erste international hervorstechende Spieler Deutschlands im linken Rückraum – oder optional gar auf der Mitte – seit vielen Jahren werden könnte. Und der junge Wetzlaer Keeper Till Klimpke. Topniveau schon jetzt hat Flensburgs Kreisläufer und Abwehrbollwerk Johannes Golla. Dieses Trio erfüllt den Anspruch, ihm gehöre die Zukunft.
Abgesehen davon driftete die Darstellung (seitens DHB) und die allgemeine Betrachtung (seitens der Medien) doch schnell in Richtung Legendenbildung ab. Denn die ach so „junge deutsche Mannschaft“, das „Perspektivteam“, die „unerfahrene DHB-Auswahl“ war – sei es der ursprüngliche EM-Kader oder die später hinzugezogenen Akteure – größtenteils gespickt mit End-Zwanzigern oder Ü-Dreißigern. Okay: Einige von ihnen hatten bis dato wenig Länderspiele in ihrer Vita vorzuweisen. Doch die Mehrzahl gehört seit Jahren zum Establishment. Ein Sammelsurium von ABC-Schülern, wie es allzu gerne geschildert wurde, war das gewiss nicht.
Nein, hier ist eine gehörige Portion Realismus und Ehrlichkeit gefragt. Werden diese Eigenschaften bei der fachlichen Bewertung des Turniers nicht ausgeblendet, darf man bilanzieren: Das Auftreten der immer wieder neu zusammengetrommelten und -gewürfelten deutschen Mannschaft verdient Respekt. Ebenso Nationalcoach Alfred Gislason, dem es gelang, gegen alle Widerstände vor Ort eine Gruppendynamik und einen Zusammenhalt unter den Spielern zu entfachen, die normalerweise unter Quarantäne-Bedingungen kaum möglich sind. Lob für die Motivation aller Beteiligten.
Dass viele Probleme und Verhaltensmuster der DHB-Auswahl auch bei diesem Turnier zu beobachten waren, darf diesmal vernachlässigt, jedoch nicht ganz vergessen werden. Defizite im Rückraum, eine international nur durchschnittliche Spielsteuerung aufgrund fehlender, individueller Klasse auf der Spielmacherposition, eine bisweilen taktische Unbeweglichkeit in vielen Stresssituationen und der Hang zu vielen, einfachen Fehlern – all das muss nicht jetzt, bei Bedarf aber beim bzw. nach dem nächsten großen Turnier beleuchtet werden. Wenn Covid und die Umstände als Erklärung und insbesondere als Entschuldigung – hoffentlich – wegfallen.
Frank Schneller (52), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.