Zeit für einen Neuanfang: Peking, Russland und die Folgen
Von Hajo Seppelt [ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT | RINGE]
Die Olympischen und Paralympischen Spiele von Peking 2022 sind vorbei – man muss sagen: endlich. Aufgrund des Ortes ihrer Austragung, des rückgratlosen Wirkens ihrer Hüter und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weltpolitischen Ereignisse gehen sie als Schandflecke in die neuzeitliche olympische Geschichte ein.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellte das sportpolitische Grundthema der Olympischen wie auch der Paralympischen Spiele in der Retrospektive noch einmal auf erschütternde Weise in den Schatten: den ursprünglich alles überstrahlenden und unauflösbaren Widerspruch, dass olympische Wettkämpfe, unpolitisch wie sie im Sinne von raffgierigen Funktionären zu sein haben, in China stattfanden und stattfinden konnten. Journalistinnen und Journalisten, die noch Mitte Februar unsicher waren, wie sportliche Höchstleistungen vor dem Hintergrund von Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Gastgeber einzuordnen waren, standen kurze Zeit später, bei den Paralympics, vor der Herausforderung, Wertungen und Gewichtungen noch einmal den nahezu unfassbaren Ereignissen anpassen zu müssen.
Was zählen noch sportliche Höchstleistungen oder die Rolle eines vollkommen deplatzierten, Menschenrechte missachtenden Gastgebers im Angesicht eines feigen Angriffskrieges in Europa, des unvorstellbaren Leids von Millionen von Flüchtlingen und der atomaren Drohung durch einen Despoten, der zum dritten Mal nach 2008 (Georgien) und 2014 (Krim) den olympischen Frieden bricht? Wer über die aseptischen Olympischen und Paralympischen Spiele in der Blase von Peking oder außerhalb davon berichtet hat, hakt sie vor diesem Hintergrund wohl noch schneller ab, als sie es ohnehin verdient hätten.
Die Chinesen haben in einem Punkt geliefert: Sie stellten inmitten einer Pandemie den technischen Ablauf der Spiele sicher. Eine hermetisch abgeriegelte Blase, fehlender Kontakt zu einem Milliardenvolk, lückenlose Überwachung, Millionen von PCR-Tests und zusätzlich über weite Strecken grenzwertige klimatische Bedingungen raubten den beiden Großveranstaltungen aber fast vollständig die Seele. Von ihr war bei Entzündung der Flamme durch eine uigurische Langläuferin („unpolitisch!“) ohnehin schon kaum noch etwas vorhanden.
Bedauerlich ist, dass damit auch sportliche Höchstleistungen verblassten, die es wert gewesen wären, intensiver bedacht zu werden. In diesem Zusammenhang ist eine Mahnung von Maximilian Klein bemerkenswert. Der Experte von „Athleten Deutschland“ für internationale Sportpolitik hatte kurz vor dem Beginn der Spiele in Peking gesagt: „Natürlich dürfen Themen wie Menschenrechte oder Pressefreiheit nie zu kurz kommen, dasselbe gilt aber auch für Athletinnen und Athleten und ihre Leistungen.“ So zutreffend seine Aussage ist, so fragil erscheint sie nun vor dem Hintergrund von Krieg und Zerstörung.
Abseits von sportlichen Leistungen gibt es Aspekte dieser Spiele und dieser Krise, die nach neuen Lösungen verlangen, wollen die Olympische und Paralympische Bewegung und ihre Führungsorganisationen noch eine Zukunft haben – inbegriffen die Chance, überhaupt noch einmal an Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Es sind Fragestellungen von existenzieller Bedeutung, noch mal massiv durch den russischen Überfall beeinflusst.
Ab wann müssen Sportorganisationen durch Sanktionen aktiv in politische Prozesse eingreifen? Oder konkret auf China und Russland bezogen: Wieso durfte China die Spiele ausrichten, während russische und belarussische Athletinnen und Athleten völlig zurecht von den Paralympics ausgeschlossen wurden? Wieso brachte ein Angriff auf die Ukraine IOC und IPC (nach peinlichem Zögern und Lavieren) zum Handeln, eklatante Menschenrechtsverletzungen in Tibet, Hongkong oder Xinjiang aber nicht, obwohl in beiden Fällen der Geist der Olympischen Charta massiv verletzt wurde?
Sind die Verantwortlichen in den Sportinstitutionen, allen voran IOC-Präsident Thomas Bach, tatsächlich noch tragbar, jetzt, da sich die chinesischen und russischen Milliardeninvestitionen in den Weltsport endgültig und auch für den letzten Sportfan sichtbar als Propaganda zur Weichzeichnung von Gräueltaten entpuppt haben? Jetzt, da endgültig klar ist, dass sich der Weltsport zunächst kaufen und dann jahrelang dankbar missbrauchen lassen hat.
Wer noch ernsthaft meint, es kann mit Führungskräften weitergehen, die eine solche Entwicklung mitzuverantworten haben, dem gehen allmählich die Argumente aus. Die vergangenen Wochen im roten Bereich haben der olympischen und paralympischen Bewegung alles abverlangt. Sie ist erschöpft, am Anschlag, brüskiert, demaskiert, demoliert. Sie hat an ihrer Spitze Bessere verdient und benötigt sie dringend für den überfälligen Neuanfang.
Fotos: Beitragsbild: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Büttner