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‚Sportler des Jahres‘: „Ein sich selbst bestärkendes System“

Procedere und Kriterien der traditionsreichen Kür standen anlässlich der Wahl 2022 nicht zum ersten Mal in der Kritik. Dabei sollte es um grundsätzliche Fragen gehen: Kann es gerechte Wahlen geben? Oder sind diese nicht immer geprägt von der medialen Dominanz der Topstars und omnipräsenten Sportarten? Und: Wie steht es eigentlich mit der Inklusion, wenn die Besten gewählt und dann bei einer großen TV-Gala geehrt werden?

Von Frank Schneller

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

 

Die Verantwortlichen des Verbandes Deutscher Sportjournalisten (VDS) bewiesen gutes Gespür, als sie Anfang Dezember ein selbstkritisches Stück zur Sportlerwahl des Jahres für ihr Online-Portal ‚sportjournalist.de‘ in Auftrag gaben – wohlgemerkt vor der großen Gala 2022. Der Artikel war noch in der Mache und die Feierlichkeiten waren kaum abgeklungen, da machte sich Ärger und Enttäuschung breit rund um die Abstimmung der rund 3.000 Mitglieder des VDS. Und – nicht zum ersten Mal – auch um das generelle Procedere, zu der die Internationale Sport-Korrespondenz (ISK) mit ihren Vorschlagslisten den Startschuss gibt.

Lückenkemper, Kaul, Eintracht Frankfurt. Leichtathletik-Stars der diesjährigen, grandiosen EM-Tage von München und Frankfurts Helden, die mit ihren Auftritten in Europa wie kein zweites Team die Fußballfans hierzulande verzückt und vereint hatten.

Was also ist so falsch an diesem Voting? Eine von mehreren möglichen Antworten lieferte der Deutsche Basketball-Bund (DBB) prompt – und schürte damit neuerliche Diskussionen um die traditionsreiche Wahl: Seine Korb-Riesen, im Sommer gefeierte Bronzemedaillengewinner bei der Heim-EM, waren nicht nur nicht unter die Top-Drei-Teams gewählt worden – sie standen erst gar nicht auf der Vorschlagsliste der ISK. Das hatte DBB-Präsident Ingo Weiss „sprachlos und irritiert“ zurückgelassen.

 

Theorie und Praxis driften auseinander

Und nicht nur ihn. „Da hat ein Praktikant die Liste zusammengestellt“, meint Andre Voigt, dabei seien die Basketballer schlicht vergessen worden. Sportjournalist Voigt ist Basketball-Experte. Die Sportart sei in Deutschland noch immer unterrepräsentiert. Auch daran habe der Fauxpas gelegen. Die ISK entgegnet: Auf den ersten Blick würden die Erfolgreichsten gewinnen – „aber die Wahl-Präambel enthält deutliche Hinweise, dass nicht allein Tore, Zentimeter und Zehntelsekunden den Ausschlag geben.“ Gesucht werde mehr denn je das Vorbild, eine Persönlichkeit des Sports. Ausgesprochen erfolgreich natürlich, aber auch durch Haltung und Charakter aufgefallen. Nicht selten würden Randsportarten die telegenen Disziplinen und Stars auf die Plätze verweisen.

So die Theorie. In der Praxis aber gewinnen meist die medial omnipräsenten Stars und Sportarten. Zudem widersprach ISK-Chef Klaus Dobbratz sich bisweilen selbst, als er auf die jüngste Kritik äußerte, Gold- und Silber-Erfolge hätten eben doch Priorität. Dass das Procedere letztlich „vielleicht nicht optimal gelaufen“ sei, räumte er immerhin ein.

 

Was ist mit den Heldinnen und Helden im medialen Abseits?

Doch wenn es nicht mal die (temporär auch medial) erfolgreichen Basketballer auf die Bühne schaffen – was ist dann erst mit jenen Heldinnen und Helden im Verborgenen, abseits der Schlagzeilen und Kameras? Jene, die dennoch große Taten vollbringen – nicht selten unter schwersten Bedingungen?

Die Kritik nimmt zu. Julia Hollnagel, Sprecherin von ‚Athleten Deutschland e.V.‘ bemängelt den erdrückenden Einfluss der TV-Präsenz als Wahl-Faktor und stellt zudem die Definition von Erfolg grundsätzlich in Frage: Medaillengewinne in publikumswirksamen Sportarten bei Großveranstaltungen seien zwar die am leichtesten messbare Größe, auch spreche sie niemanden ab, die Auszeichnung nicht verdient zu haben, „ich würde mir aber wünschen, dass man das aufbricht und sich fragt: Welche Sportler*innen haben sich vielleicht auch abseits des Feldes, der Arena verdient gemacht? Hierfür könnte man ganz transparente Kriterien festlegen“. So hätte

2021 zum Beispiel auch Nike Lorenz eine Chance gehabt – „nicht nur als sensationelle Hockeyspielerin, sondern weil sie sich auch ganz klar für unsere gesellschaftlichen Werte eingesetzt hat, indem sie durchsetzte, die Regenbogenbinde bei den Spielen in Tokio tragen zu dürfen“. Durch die Fixierung auf die Medaillen präsentiere sich der Sport laut Hollnagel veraltet und wenig attraktiv: „Höher, schneller, weiter – diese Werte allein ziehen nicht mehr. Ich wünsche mir, dass Athlet*innen sich auch als Persönlichkeiten ganzheitlich entfalten können und dass das entsprechend gefordert und gefördert wird – auch von den Medien.“

Wählt selbst nicht: Journalist, Sportwissenschaftler und Medienexperte Dr. Thomas Horky – Foto: Hochschule Macromedia

 

Inklusive Wahlen? „Es bedarf neuer Kategorien“

Hans-Joachim Lorenz, Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) unterstreicht das: „Die Sportlerwahl ist mir zu stark dominiert durch TV und damit verbundene Herausstellung großer Athleten, häufig durch flächendeckende Berichterstattung, zum Beispiel bei Olympia und WM. Randsportarten mit wenig TV- Präsenz prägen sich im öffentlichen Bewusstsein kaum ein. Leistungen aus Randsportarten werden so gut wie nicht beachtet!“

Lorenz liefert weitere Beispiele für die Chancenlosigkeit von Randsportarten: „Die insgesamt erfolgreichste deutsche Mannschaft, die Wasserballer von Spandau 04, tauchen seit Jahren nicht mehr auf. 37mal Meister, 32mal Pokalsieger, international erfolgreich – jedoch völlig außer Acht.“ Ebenso die deutschen Tischtennisspieler, bei Olympia und WM nur von der Übermacht China gestoppt! Zweite Plätze wie diese sind wertvoller als viele Titelgewinne.“

Der frühere ARD-Journalist eröffnet eine weitere Diskussion: Was mit den paralympischen Leistungen sei, fragt er sich: „Ist die separate Wahl noch zeitgemäß oder muss man nicht in neuen Kategorien denken – und wählen.“ Dazu Hollnagel: „Zwei Ehrungen sind durchaus sinnvoll. Aber ich verstehe nicht, warum das zwei separate Veranstaltungen sein müssen. Bei der Zusammenlegung hätten die Para-Sportler*innen eine viel größere Bühne. Außerdem wird diese Veranstaltung auch im ZDF übertragen. Diese Sichtbarkeit haben die Para-Athlet*innen auch verdient. Eine Zusammenlegung wäre wirklich inklusiv.“

 

Zu große Nähe der Medienverteter

Medienexperte und Sportwissenschaftler Dr. Thomas Horky sieht diese Trennung ebenfalls als „wenig förderlich“ an: „Schon sprachlich ist die Spaltung nicht förderlich, auch wenn den paralympischen Sportlerinnen und Sportlern damit wohl eine größere Aufmerksamkeit und Siegeschance zukommt.“ Er begegnet der Wahl schon an einem viel grundsätzlicheren Punkt kritisch: Ich halte die Wahl zur Sportlerin und zum Sportler des Jahres durch den deutschen Sportjournalismus für problematisch. Kolleginnen und Kollegen sollten den Gegenstand der Berichterstattung nicht auf ein Podest heben, dies kann eine kritische Berichterstattung beeinflussen. Sich nicht mit der Sache gemein machen, heißt es im Journalismus, diese Wahl aber ist eine zu große Nähe zum Berichterstattungsobjekt. Es ist in Ordnung, die Besten des eigenen Berufstandes zu küren – aber nicht Sportlerinnen und Sportler.“ Manche Reaktion rund um das DBB-Team stützt diese These.

Die Wahl ist laut Horky „ein sich selbst bestärkendes System. Sportlerinnen und Sportler, die in den Medien erfolgreich sind, werden wiederum meist auch von den Sportjournalistinnen und Sportjournalisten gewählt. Oft scheint nicht nur der sportliche Erfolg, sondern vielmehr die mediale Darstellung Grundlage für eine Entscheidung zu sein.“ Der Medienexperte gibt zu bedenken: „Sollte nicht auch der Erfolg im Kleinen, die sportliche Leistung abseits der massenmedialen Beobachtung prämiert werden? Dies ist bei dieser Wahl jedoch kaum der Fall. Die Siegerlisten lesen sich wie das Who is Who der olympischen Medaillen oder erfolgreichen Fußballteams“. Sein Fazit: „Natürlich ist die Auszeichnung als Sportlerin und Sportler des Jahres meist sehr berechtigt. Aber ist sie auch sinnvoll?“ Jüngste Meinungs-Recherchen in der Sportmedien-Szene geben deutliche Hinweise darauf, dass zumindest eine Modernisierung des Konzepts diskutiert werden sollte.

 

Frank Schneller (53), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.

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