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Tore im ‚Exil‘

Sport trotz großer Sorgen. Sport abseits des Krieges. Sport gegen die Angst: Den ukrainischen Handballern gelingt dies seit dem russischen Überfall auf ihr Land auch dank der Unterstützung aus Deutschland. Doch die Gastrolle der jungen Spieler und ihrer Familien endet absehbar. Wo finden sie ein neues Zuhause fern der Heimat? Eine Reportage.

Von Frank Heike

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

 

Ein Sonntagnachmittag im Rostocker Winter. Heimspiel des HC Empor gegen HC Motor Saporischschja in der Stadthalle gleich hinter dem Bahnhof. Die Vereinsfarben der Rostocker sind Gelb und Blau; auf ihr Heimspielheft haben sie eine Friedenstaube gedruckt. 400 Zuschauerinnen und Zuschauer sind dabei, sie haben ihre Eintrittskarten bezahlt, obwohl das Spiel aus der Wertung genommen wird wie alle Partien der Ukrainer.

Wer russische Trolle oder ukrainische Fanblöcke erwartet hat, wird enttäuscht. Drei Frauen haben eine ukrainische Fahne dabei und jubeln bei Toren des HC Motor. Es ist ein Handballspiel wie viele andere. 31:30 gewinnt Saporischschja, es ist erst der siebte Saisonsieg, was zeigt, wie gut die zweite Liga ist – allerdings hat das aktuelle Motor-Team auch wenig mit dem zu tun, das jahrelang in der Champions League spielte. Viele „Legionäre“ liefen damals auf; sie haben die Ukraine sofort nach Kriegsbeginn verlassen. Nun ist die frühere zweite Mannschaft von HC Motor die Erste.

 

Auf der Suche nach einem neuen Zuhause fernab der Heimat

In Rostock überrascht der dortige Vereins-Vorsitzende Tobias Woitendorf mit einem Vorschlag. Er greift vor dem Spiel zum Mikrophon und sagt: „Wenn es keine bessere Alternative gibt, als dass Saporischschja hier bei uns in der zweiten Liga spielt, weil es dort nicht möglich ist, dann freuen wir uns, wenn wir Saporischschja auch im nächsten Jahr in der zweiten Liga begrüßen können.“ Der anschließende Applaus wirkt aufrichtig.

Realistisch ist die Verlängerung nicht. „Wir werden den Spielplan mit Saporischschja sauber abarbeiten“, sagt Oliver Lücke aus der Geschäftsführung der Handball-Bundesliga (HBL). Verein und Verband ahnen, dass das deutsche Exil Anfang Juni nach dem 38. Spieltag enden wird. Sascha Gladun, der Generalsekretär des ukrainischen Handballverbandes, sagt: „Wir wissen, dass die Liga reduziert werden soll. Es ist auf Dauer nicht leicht, mit einem ausländischen Verein in der heimischen Liga. Die kostenlose Variante der Stadt Düsseldorf kann nicht ewig halten. Düsseldorf ist in einer für uns ganz schwierigen Situation aufgetaucht. Wir spüren inzwischen soviel Unterstützung, wo anfangs Skepsis war. Vielleicht wäre ein anderer Standort in der neuen Saison der richtige.“ Schon soll es Gespräche mit der polnischen, slowakischen und ungarischen Liga gegeben haben.

Das junge Team von HC Motor Saporischschja hat sich in der 2. Liga akklimatisiert und erfreut sich der Unterstützung etlicher Landsleute (siehe Foto oben).

 

Schlichtheit des Handballs tut in harten und belastenden Zeiten gut

Gladun, 50, wohnt in Oberammergau und arbeitet in Herrsching bei München als Sportlehrer. Er spricht perfekt Deutsch, ist seit 1996 hier, war Handballprofi in der Bundesliga. Seit Beginn des Krieges hat er Stunden reduziert und hilft, wo er kann: Organisator. Fluchthelfer. Netzwerker. Übersetzer. Krankentransporter. Eine harte Belastung. Da tut die Schlichtheit des Handballs, diese Beschäftigung mit seinem liebsten Sport, einfach gut.

Gerade hat die ukrainische Nationalmannschaft mit zehn Profis vom HC Motor in der Qualifikation zur EM 2024 zweimal gegen Österreich gespielt; das „Heimspiel“ in Coburg. Gladun lässt keinen Zweifel, wem das Lob dafür gebührt: „Wir sind dem deutschen Handball dankbar, weil es die ukrainische Nationalmannschaft ohne seine Hilfe nicht mehr geben würde.“

Es gibt die ukrainische Nationalmannschaft auch ein Jahr nach Beginn des Krieges noch, weil es den HC Motor Saporischschja gibt. Weil es Frank Bohmann und die HBL gibt. Weil es die Stadt Düsseldorf und deren Event-Tochter gibt. Die Elite-Handballer des Landes existieren weiterhin als Team, weil sich 19 deutsche Zweitligisten nach anfänglichem Gegrummel daran gewöhnt haben, Saporischschja als Gast zu beherbergen.

Die Akteure leben und trainieren in Düsseldorf. Für ihre Gehälter sorgt der Sponsor: Motor Sitsch, renommierter, hochmoderner Hersteller von Hubschrauberturbinen, Flugmotoren, Gasturbinen aus Saporischschja. Exporteur in die ganze Welt. Für Kosten der Heimspiele und die Unterbringung in Wohnungen kommt die Stadt Düsseldorf auf – sie soll dafür rund eine Million Euro ausgeben.

Seit acht Monaten tragen die ukrainischen Handballer ihre Spiele nun schon im Exil am Rhein aus. Nicht in der „richtigen“ Heimat am Dnepr, 2000 Kilometer entfernt. Zu ihren Auftritten im „Castello“ ist der Eintritt frei. Etwa 200 Menschen kommen. Es gibt einen Stand mit Fan-Utensilien. Auch Zuhause schauen sie zu, denn die Spiele werden im Livestream übertragen – wenn es Strom gibt.

 

Die Leute zuhause sind stolz auf die Handballer

Ihre erfahrenen Akteure wie Torwart Gennadi Komok (35 Jahre) oder Linksaußen Zakhar Denysov (33) haben genauso Auskunft gegeben wie die jüngsten im Kader, kaum 20 Jahre alt. „Ich habe schon manchmal ein schlechtes Gewissen, hier Handball zu spielen und nicht dort unser Land zu verteidigen“, hat Denysov gesagt. Aber er hat auch seine neue Rolle hervorgehoben: „Die Leute zuhause sind stolz auf uns. Wir wollen der Welt zeigen, dass unser Handball weiter existiert.“

Manches klang martialisch, wenn es hieß, es werde nicht im Krieg gekämpft, sondern auf dem Handballfeld. Andere haben einfach geschwiegen, oder ihnen versagte die Stimme, als sie gefragt wurden, ob sie Freunde an der Front verloren hätten. Verwandte und Bekannte in der Ukraine haben sie alle.

Dass sie überhaupt ihr Land verlassen durften und nicht eingezogen wurden, lag im Sommer 2022 daran, dass sie einen Status als Nationalmannschafts-Athleten hatten. Dieser ließ sie ihren Beruf als Handballspieler weiter ausüben. Zuhause herrschte Kriegsrecht, und Männer zwischen 18 und 65 mussten bleiben. Das Sportministerium erbat das Sonderrecht für die Handballer, die Regierung erteilte es. Der rührige Teamchef Dmytro Karpuschtschenko reiste im Frühling 2022 zunächst durch Ost-Europa und versuchte, HC Motor unterzubringen. In Polen, der Slowakei, Tschechien. Die deutsche Variante gefiel dann nicht nur ihm, sondern auch den Verbandsoberen am besten. Was HBL-Chef Bohmann zunächst wie eine „Schnapsidee“ vorkam, wurde im Laufe vieler Gespräche zur gelebten Solidarität – und hat jetzt schon eine dreiviertel Saison Bestand.

 

Es wird weitergehen, wo auch immer

Und nun? Sascha Gladun sagt: „Aus einer katastrophalen Situation haben sich ein paar gute Sachen entwickelt. Wir haben unsere Sportart erst einmal gerettet.“ Denn es wird weitergehen mit den Handballern des HC Motor, wo auch immer: Das Turbinenwerk in Saporischschja übernimmt die Gehälter eine weitere Saison. Also wird auch weiterhin eine Nationalmannschaft existieren. Ihr entscheidendes Spiel auf dem Weg zur EM in Deutschland findet am 30. April gegen Rumänien statt. Es ist ein Heimspiel. In Gummersbach.

 

 

Sportjournalist Frank Heike (52) schreibt seit vielen Jahren als Korrespondent regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der gebürtige Flensburger ist zudem Mitglied der Hamburger Medienmannschaft. Neben Fußball und Handball gehören Sportbusiness-Themen inzwischen zu Heikes Kern-Expertise.

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