Prothesensprinter Johannes Floors: Sich selbst der liebste Gegner
Aus der Reihe besonderer Olympia-Magazine des Teams rund um Medien-Entrepreneur Oliver Wurm erschien dieser Tage das neueste Heft voller spannender Geschichten und Portraits: „PARIS.24 – SPORT GANZ NAH“. 180 Seiten Vorfreude auf Olympia. Unser Redakteur Frank Schneller portraitierte dafür Ausnahme-Athlet Johannes Floors. Eine Leseprobe.
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Dass Johannes Floors einmal gut werden und Medaillen gewinnen würde, das habe man früh erahnen können, sagt sein Entdecker Jörg Frischmann, Parasport-Geschäftsführer beim TSV Bayer 04 Leverkusen, der Hochburg und Medaillenschmiede des Behindertensports in Deutschland. Dass der junge Mann, der gerade erst sein Abi gebaut hatte, derart durchstarten und einmal auf dem Niveau von Nichtbehinderten laufen würde indes nicht. Talentscout Frischmann habe vor gut zehn Jahren ja noch nicht wissen können, „wie akribisch Johannes an sich arbeitet, wie er mit seinem Körper umgeht, wie er mit seinen Prothesen umgeht“, als er ihn nach Leverkusen holte. Kurzum: „Welch Perfektionist er ist.
Und tatsächlich: Um den Erfolg dieses Ausnahmesportlers zu verstehen, muss man sein Credo verstehen, seine Zielstrebigkeit, seinen Ehrgeiz, seine Entscheidungskraft. Und seine Neugierde. „Ich liebe es, mich in Grenzbereiche zu begeben und meine Grenzen auszutesten“, sagt er. Dabei redet Floors seelenruhig. Entspannt. Fokussiert. Erzählt er vom Streben nach immer neuen Erfolgen und Verbesserungen, ist seine Stimme beinahe sanft. Er spricht klare Ziele leise aus. Da ist einer völlig bei sich. Völlig von seinem Weg überzeugt. Selbstreflektierend. Eine Challenge nach der nächsten suchend. Gerne auch bei sich selbst. Er braucht das.
Johannes Floors – zweimaliger Paralympics-Sieger (2016/2021), Weltrekordhalter sowie mehrfacher Welt- und Europameister – ist einer der heißesten Anwärter auf Sprint-Gold bei den Paralympischen Spielen in Paris. Über 100m, erst recht über 400m und vielleicht auch in der Staffel.
Johannes kann Multitasking. Nicht nur auf der Sprintstrecke, mit seinen Karbon-Blades. Bei ihm passt alles zusammen: Er ist Orthopädietechnik-Mechaniker, arbeitet beim Prothesen-Hersteller Ottobock. Außerdem macht Johannes gerade seinen Master in Maschinenbau, auch wenn er das Studium zuletzt etwas zurückgestellt hat, um sich auf die Paralympics vorbereiten zu können. Floors‘ Tatendrang ist mit Händen zu greifen. „Wenn Johannes etwas macht, dann richtig – konsequent, mit allem, was er hat, vor allem Begeisterung und Commitment“, beschreibt ihn Heinrich Popow, einst selbst Weltklasse-Paraathlet, Wegbegleiter und ein weiterer Mentor Floors‘. Tatsächlich ist der stets im Einklang mit seinen Entscheidungen, bejaht alle Facetten seines Lebens. Schlägt er einen Weg ein, sprintet der 29jährige etwaigen Zweifeln sinnbildlich davon – und seinem ausgeprägt hohen Selbstanspruch entgegen.
Woher er diese Fähigkeit hat? Nun, fraglos hat sie etwas mit dem 7. Juli 2011 zu tun. An jenem Tag vor 13 Jahren nämlich hat sich Floors‘ Leben für immer verändert. Zuvor hatte sich der damals 16-Jährige, der aufgrund des Fibula-Gendefekts an deformierten und zu kleinen Füßen litt, den dauerhaften Schmerzen ein Ende zu bereiten und sich die Unterschenkel amputieren zu lassen. Seine Motivation? „Schmerzfrei zu werden. Hätte ich mich dazu nicht entschieden, hätte ich weiter gelitten und sich nichts geändert“. Diese Entscheidung sei die größte und beste seines Lebens gewesen. Das wusste er in dem Moment, als er nach der OP im Krankenbett aufwachte und an der Bettdecke herabblickte, wo sich keine Füße mehr abzeichneten. Doch die Schmerzen waren weg. Und in der Folge auch das Gefühl, „eine Steinkugel, die an mich gekettet war, hinter mir herzuziehen.“ Für immer.
Floors – nach der Amputation und der Versorgung mit zwei Unterschenkelprothesen rund ein Jahr später von 1.60m auf 1.80m ‚gewachsen‘ und dadurch deutlich selbstbewusster – war nun überzeugt: „Egal, was jetzt kommt, das wird auch gut.“ Dabei war es gar nicht mal die Tragweite des Eingriffes, sondern das Wissen, die richtigen Weichen stellen, seiner Intuition vertrauen zu können. Klar: Floors wuchs auch an der Entscheidung, sich amputieren zu lassen – sein Reifeprozess erhielt einen Kickstart: „In dieser Phase bin ich für mein Alter am schnellsten erwachsen geworden.“ Heute habe sich das relativiert, sagt er, „entschleunigt – das ist auch ganz schön. Mit 18 war ich gefühlt Mitte 20, heute fühle ich mich meinem Alter entsprechend. Man stelle sich vor, ich würde schon wie ein Enddreißiger denken …“. Floors ist 29.
Daran, dass der bekennende Metal-Fan – auf einschlägigen Open Air-Konzerten sei er gerne mitten drin und tobe sich aus, berichten Freunde – später einmal mit Prothesen bei Paralympics und Weltmeisterschaften Goldmedaillen holen und eine derartige Blitzkarriere hinlegen würde, hatte Floors im Juli 2011 noch nicht gedacht. Spricht man heute darüber mit ihm, legt er Wert auf die Feststellung, dass ihm diese verkürzte Darstellung nicht gefällt: „So einfach ist die Formel nicht. Ich habe mich zu diesem Eingriff nicht entschlossen, um eine Sportkarriere zu starten, das ist eine Mär.“ Er wollte kein vom Rollstuhl geprägtes Leben. Er wollte sich schmerzfrei und normal bewegen, primär im Alltag. Das kann er seit dem Eingriff. Geht er in langen Hosen mit seinen Alltagsprothesen durch die Stadt, merkt man ihm diese gar nicht an, wenn man nicht ganz explizit darauf achtet.
Dennoch spielte Sport schon vor der Amputation eine große Rolle in Ihrem Leben …
„Sport war für mich immer enorm wichtig, ja. Daher auch der Drang, Sportabitur zu machen – Sport also in der Schule weiterverfolgen zu können. Bis zur Amputation hatte ich Schwimmen als Leistungssport betrieben.“
Was gab später den Ausschlag pro Leichtathletik? Sie hatten doch bis zu Ihrem Eingriff gar nicht so viele Berührungspunkte dazu und eine Menge Alternativen zur Auswahl …
„Ja, und eigentlich ging auch alles – außer Leichtathletik. Ich war nämlich nie der große Läufer. Die Behinderung spielte eine zunehmende Rolle, ich wurde deshalb abgehängt, die anderen waren einfach schneller. Die Schmerzen in den Füßen waren natürlich auch ein Grund, warum ich früher nicht laufen wollte – oder konnte. Fahrradfahren war besser, und Schwimmen erst recht, weil ich die Füße nicht belasten musste. Dann habe ich meine Alltagsprothesen bekommen, Mitte 2012 – als ich schon den Sportleistungskurs belegt hatte. Alle Sportarten waren damit möglich, aber es war auch klar: Für die Note muss ich einen Triathlon machen, darum fing ich an zu joggen. Erst mal nur zwei Kilometer.“
Wie muss man sich das vorstellen – war das nicht schwierig?
„Doch. Ich wusste zu der Zeit nicht mal, wie Joggen geht. Es war super anstrengend, ich war super langsam – das sah sicher null dynamisch aus. Heute habe ich viel mehr Bewegungsverständnis als damals. Aber ich fand Gefallen daran, ich fand das cool. Cool war auch, dass mich mein Prothesenbauer, das Sanitätshaus Hoffmeister, an meinem damaligen Wohnort Braunschweig in allem unterstützt hat. Ich bekam Prothesen mit ‚Clickis‘ fürs Rennrad, die Joggingfüße bekam ich auch geliehen – so konnte ich joggen. Das wurde dann auch immer mehr und besser.“
In Riesenschritten Richtung Weltklasse-Athlet. Wann kam Ihr heutiger Verein TSV Bayer Leverkusen ins Spiel?
„Als in Leverkusen ein Laufvideo von mir auftauchte, das unter anderem von Jörg Frischmann gesehen wurde. Und dann bekam ich eine Facebook- Nachricht: „Hey, das sieht ganz gut aus, willst Du nicht mal nach Leverkusen kommen. Interessiert an einem Probetraining?“ Dieses Probetraining hat mir gleich sehr gut gefallen. Ich habe viel Spaß am Sprinten gehabt. Aber um damit weitermachen zu können, brauchte ich eigene Sportprothesen – die kosteten knapp 20.000 € – mein Sanitätshaus in Braunschweig und der TSV Bayer 04 haben es finanziert. Keine Krankenkasse hätte das damals gezahlt. Damit war klar: Das wird mein Weg. Es gab kein Zurück.“
Klingt, als hätten Sie in kürzester Zeit einen Masterplan entwickelt, in die Weltspitze zu laufen.
„Es war teils schon eine günstige Fügung, Dinge haben sich ergeben – aber ich habe eben auch die Chancen immer sehr zielorientiert ergriffen. Ich habe nichts hinterfragt, nicht gezögert. Das waren alles Dinge, auf die ich Bock hatte. Gib einem fußballbegeisterten Jungen mal die Chance, zweimal in der Woche mit den ‚Großen‘ zu kicken, der sagt doch auch gleich ja und ergreift die Gelegenheit beim Schopfe.“
Sie zögern nie lange, wenn es ums Entscheiden geht?
„Abwägen: Ja. Zögern: Nein. Jedenfalls nicht, wenn es um die wichtigen Entscheidungen geht.“
Welchen Stellenwert nimmt der Sport heute für Sie ein?
„Sport ist mein Gewerbe, mein Standbein, ohne Sport hätte ich mein Studium nicht finanzieren können. Nicht strecken können. Aber Sport ist nach wie vor auch meine Leidenschaft, macht mir extrem viel Spaß und weckt Emotionen.“
Topathleten eint meist eine Gabe: Sich und ihren Alltag organisieren zu können, die Fähigkeit zu priorisieren und sich zu strukturieren. Wie ist das bei Ihnen?
„Das gelingt, wenn man ausdauernd ist und weiß, wofür man etwas macht. Ich habe für mein Bachelor-Studium 13 statt sieben Semester gebraucht, ich denke aus nachvollziehbaren Gründen mit Blick auf meine sportliche Laufbahn – wenn ich für das Master-Studium auch in etwa die doppelte Zeit brauche, also sechs oder sieben statt drei Semester, dann ist das so. Alles drum herum, mein Sport und mein Job, ermöglicht mir den Luxus, dass es so lange dauern kann.“
Zumal offenbar alle Bereiche Ihres Lebens ineinandergreifen …
„… was meistens von Vorteil ist, manchmal aber auch Korrekturen erfordert. Ein Beispiel: 2017 war ich an einem Punkt, an dem das Thema Prothese in meinem Leben zu präsent war. Es hatte gefühlt einen viel zu großen Stellenwert – im Job, im Alltag und im Sport: Morgens meine Prothesen anziehen, zur Arbeit, Prothesen bauen und dann abends zum Sport, um mit Prothesen zu trainieren. Den Arbeitsteil habe ich dann aus meinem Leben mal eine Weile rausgeschoben. Ich wollte studieren und hatte freie Auswahl.“
Warum das Maschinenbau-Studium?
„Ich liebe Technik. Als kleiner Stöpsel habe ich Uhren auseinandergebaut – und nicht wieder zusammengebaut. Mir war immer klar: Ich will bauen können, basteln, tüfteln. Und ich will wissen, was Industrien in der großen weiten Welt eigentlich so machen. Und damit war klar: Es geht nur Maschinenbau. Ich wollte möglichst viel Wissen anhäufen, um mir viele Richtungen und Wege offen zu halten, mich später einmal spezialisieren zu können. Den Weg zurück in die Prothetik habe ich mir zwar bewusst offengehalten, klar – aber vorgezeichnet war er seinerzeit nicht.“
Was bewog Sie zur Rückkehr? Schließlich müssen Sie dafür zwischen Leverkusen und dem Firmensitz Duderstadt pendeln …
„Ich brauchte den Abstand – und den Blick darauf aus der Perspektive meines Studiums. Mit all den Facetten, den interdisziplinären Übergriffen, die ich im Studium erfahren habe. Dadurch hat sich meine Haltung gegenüber dem Prothetik-Job ins Gegenteil verkehrt: Ich liebe das, was ich gerade tue. Ich komme auch total gerne zurück in eine Werkstatt mag den speziellen Geruch dort. Man riecht, da wird was geleistet – man riecht die Arbeit, das Entstehen eines Produkts. Es gibt in der Prothetik ganz eigene Gerüche, die man damit verbindet: Kleber und Siegelharz.“
Profitiert der Prothetik-Mechaniker Floors vom Prothesen-Sprinter Floors?
„Ja. Und umgekehrt. Beim Prothesensport kommt viel Wissen zusammen: Ausbildung, Studium, Erfahrung am eigenen Leib. Das gilt auch beruflich. Ich bin an einer Schnittstelle, kann als Prothesenkonstrukteur und -Anwender alles miteinander kombinieren. Die eigene Erfahrung am Übergang von der Alltags- zur Sportprothese, vom Gang zum Sprint, ist schon ein wichtiger Faktor meiner Expertise. Das sind andere Bewegungsabläufe, andere Anforderungen – der optimale Gedanke ist: Mit Prothese so sprinten wie die, die keine Prothese tragen. Das ist sehr motivierend.“
Ob Job, Studium oder Sport: Es schwingt soviel Begeisterung mit, wenn Sie darüber sprechen. Ist der Akku immer aufgeladen? Ist da immer dieses Extra-Maß an intrinsischer Motivation?
„Ich brauche schon auch mal Anschub. Aber in mir ist soviel Neugierde, so viel Begeisterungsfähigkeit für alles, das ich tue: Training, Wettkampf, Job, Studium. Wenn ich das nicht spüre, die Lust auf etwas, die Begeisterung – dann merke ich das auch immer an meiner Motivation.“
Was kommt nach Paris? Wie wird Ihr Leben danach aussehen?
„Mein Master-Studium wird auf der Prioritätenliste wieder nach oben rutschen. Dann folgt die nächste Weichenstellung, die nächste Entscheidung. Ich bin ganz sicher: Sie wird auch wieder zum aktuell vorherrschenden Lebensmodell, zur Situation passen. Ich werde wieder intuitiv richtig handeln. Bis dahin vergeude ich keine Zeit damit, zu spekulieren.“
Johannes, der Bauch- und Kopfmensch, hält inne, als würde er das Gesagte im Schnelldurchlauf rekapitulieren. Dann lächelt er zufrieden. Floors im Flow. Paris vor Augen. Dort will er sich am besten gleich mehrfach belohnen für das jahrelange harte Training, den Zeitaufwand und die Zielfokussierung. Er weiß, dass er es kann. Im Trainingslager in Südafrika hat er den Feinschliff vorgenommen. Er freut sich riesig auf die Paralympics. Die Familie wird ihn dort unterstützen, die anderen Sportlerinnen und Sportler des deutschen Teams werden die Daumen drücken: „Wir-Gefühl“ allenthalben, auch wenn Sprinter zunächst einmal starke Individuen sind. Sein müssen. Floors‘ größter Gegner, so heißt es auch immer wieder, sei er selbst. Sein Selbstanspruch. Er wirkt jedoch, als brauche er diesen ‚Gegner‘. Und, ja, offenbar kann er ihn sogar richtig gut leiden.
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