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Coubertin in die Gegenwart übersetzen

Die Olympischen Spiele sind abseits aller sportlichen Wettbewerbe und Entscheidungen auch in einem gesellschaftlichen Kontext zu sehen. Denkanstöße, Erwartungen und Meinungen …

Von Michael Hakenmüller

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

 

Angesichts der – laut des französischen Innenministeriums – 55.000 Sicherheitskräfte, vor allem Polizisten zum Schutz von Sportlern, Funktionäre und Besucher für eine von ihrem Begründer ausgedachte weltweite Friedensveranstaltung stellt sich schon die Frage: Was haben die 17 Tage der Olympischen Sommerspiele vom 26.Juli bis zum 11.August 2024 in Frankreichs Hauptstadt Paris eigentlich zum Ziel? Und welchen Nutzen?

Dabei gibt es durchaus Maßstäbe, die man an diese größte Sportveranstaltung der Welt legen kann – jene, welche vorhergehende Sommerspiele seit 1896 gesetzt haben. Allen voran die XX. Olympischen Sommerspiele in München, mit denen die Organisatoren das Veranstalterland in neuem, hellen und freundlichem Licht darstellen wollten, was ihnen bis zum grausamen Anschlag von palästinensischen Terroristen auf israelische Sportler durchaus gelang. In Bayerns ´Weltstadt mit Herz` trafen sich nämlich nicht nur die besten Athleten der Erde zum friedlichen Wettstreit, sondern auch international beste Sportwissenschaftler, Pädagogen, Soziologen und Philosophen, um bei verschiedenen Seminaren und kleineren Kongressen ihr bis dahin gesammeltes Wissen kundzutun und auszutauschen.

Damals wurden bis heute wesentliche Erkenntnisse zur Sportwissenschaft und Spieltheorie, zur Methodik und Didaktik des Sportunterrichts bis hin zum Programmierten Lernen und natürlich der Trainingslehre vorgestellt und in den darauffolgenden Jahren publiziert wie in die Tat umgesetzt.

 

Chancen und Herausforderungen für die Sportwissenschaft

So wäre eine Erwartung an die Spiele in Paris, dass es ganz ähnliche Treffen von Wissenschaftlern gibt, die allen voran die umfangreichen Schriften des ja selbst in dieser Stadt 1869 geborenen Erfinders des modernen Olympia, Pierre de Coubertin, analysieren und für bzw. in die Gegenwart übersetzen (vergleiche hierzu www.sciences2024.polytechnique.fr).

Die Sportwissenschaft ist zwar seit 1972 nicht grundlegend anders unterwegs – und auch dort hatte man sich schon angesichts des dominanten Auftretens von Sportlern aus den Ostblockländern mit den Problemen des Dopings beschäftigt. Allerdings trifft sie auf eine neue Herausforderung: Die Welt der Smartphones und der künstlichen Intelligenz.

Dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ist dies durchaus bewusst, veranstaltete es doch im März dieses Jahres in London ein großes Symposium dazu, wo allerdings sehr wohlwollend mit den Chancen der K.I. geworben wurde, das Lernen von Bewegungsabläufen zu optimieren. Jedoch weniger damit, welche Gefahren diese Geräte und fremdgesteuerten Techniken auf die Eigenleistung von jungen Menschen birgt, sich für sportliche Anstrengung selbst zu motivieren.

Wer Sport studiert hat oder leistungsmaß betreibt, weiß und erkennt, wieviel Anstrengung und Schweiß, ja gelegentlich auch Verletzung des Körpers notwendig sind, um über sich selbst hinauszuwachsen und eine immer bessere Leistung zu erbringen – auch im Sinne von ´Citius, Altius, Fortius`, einem der beiden olympischen Mottos (das zweite: Die Teilnahme ist wichtiger als der Sieg.)

 

Paris der nächste Höhepunkt der Daten-Olympiade?   

Verführt K.I. nicht vielmehr auch dazu, sich noch mehr unter Leistungsdruck zu setzen und sich somit auf andere raffinierte Weise zu dopen, die Amplituden seines bzw. des menschlichen Körpers zu überfordern, und letztlich zu einer Art ´Übermensch` zu werden? Eine künstliche Optimierung der Bewegungsabläufe und des Trainings lässt nämlich befürchten, dass der Mensch seine natürlichen Grenzen vergisst und scheitert. Siehe hierzu auch den Satz im ´Faust`: „Der Mensch irrt, solang er strebt“. Oder vergleiche den antiken Mythos vom ´Ikarus`.

Indes, die Spiele in Paris könnten auch wertvolle Erfahrungen bringen, wie man solche Mega-Sportveranstaltungen umweltverträglich durchführen kann. Dazu bedarf es während der Spiele immer wieder Zwischenbilanzen und -berichte, damit diese wirklich glaubwürdig ihre zuvor schon lauthals verkündeten Ansprüche abgleichen und bestätigen können.

Schon bei den Sommerspielen in Tokyo 2021 war zu beobachten, dass die allermeisten TV-Zuschauer nicht mehr an den Bildschirmen sitzen, sondern unterwegs per Smartphone und in ´sozialen Netzwerken` die sportlichen Geschehnisse verfolgen. Welche sich ja mittlerweile simultan per 24-h-Livestream der vom IOC als Top-Sponsoren auserwählten Fernsehsender von fast allen Sportstätten beobachten lassen.

Wer weiß, vielleicht liegt hier die Zukunft dieses Events: Die Zahl der Zuschauer wird der Umwelt zuliebe begrenzt, und die Sportler werden trotzdem durch diese von zuhause aus per Lautsprecher applaudiert.

Was die sportlichen Leistungen selbst angeht, ist keine große Leistungsexplosion der Athleten zu erwarten, denn das vom IOC mit sehr viel Geld unterstützte Anti-Dopingsystem der Welt-Doping-Agentur (WADA) greift seit einem Jahrzehnt (vor allem seit den Vorfällen bei den Olympischen Winterspielen in Sotchi 2014) immer besser und schneller. Jedoch sind viele Rekorde noch mithilfe von verstecktem Doping erzielt worden, welche nun von vermeintlich sauberen Athleten kaum mehr getoppt werden können. Zum ersten Mal können sich ja auch Hobby-Sportler an zwei olympischen Wettkämpfen – wenn auch ohne Medaillen – beteiligen, zum Beispiel am Marathonlauf, was das sportliche Niveau kaum heben dürfte.

Schauplatz des 1. IOC-Kongresses 1894: Die Sorbonne Universität in Paris.

 

Kultur und Politik in Paris allgegenwärtig: Des ‚Königs‘ Kleider.

Freilich eine Art Kür dürften die weiteren kulturellen Veranstaltungen bei diesen Olympischen Sommerspielen in der ´Stadt des Lichts`, der Kunst, der Musik und der philosophischen Freiheit, ja existentialistischen Gedanken werden. Der Gründungsort des IOC, die weltweit renommierte Universität Sorbonne, wie die große Barock-´Opera`, oder auch das größte Kunstmuseum der Welt, der Louvre, bieten hierzu glänzende Plätze.

Fragt sich nur, inwieweit neben dem IOC unter ihrem Präsidenten Thomas Bach als größter Verfechter dieser von ihm als „Zeitenwende” bezeichneten Spiele der weitere und wohl mächtigste Förderer spielt: Der französische Präsident Emmanuel Macron. Der hat zwar durchaus geschickt vor einigen Monaten nach eigenem Vorbild seine Mitbürger zu täglich einer halben Stunde sportlicher Betätigung aufgerufen. Doch mit seiner Machtfülle inszenierte er sich selbst gleichzeitig immer wieder auch gern als Nachfolge eines ´Sonnenkönigs` im Stil eines Ludwig XIV.

Ihm stünde es besser, sich angesichts der stetigen Renitenz seiner Bevölkerung mit deren Beharrlichkeit in Sachen sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand bescheiden zu zeigen. Trotz sicherlich grandioser medialer Präsentation vor wie unter dem Eiffelturm und entlang der Champs-Elysée – ganz wie es ihm gefallen dürfte. Vielleicht aber sollte er sich auch mal selbst anstatt im chicen blauen Anzug in Trainingskleidung präsentieren – und somit als Einer unter Vielen.

 

Hinweis: Kommentare und Ansichten von Gastautoren entsprechen nicht zwangsläufig der Meinung und Haltung von Vorstand oder Redaktion. Sie sollen, wie in Meinungsbeiträgen üblich, zur – möglichst konstruktiven und sachlichen – Diskussion anregen. D. Red.

 

Michael Hakenmüller (Foto: privat) aus Hechingen ist Vorsitzender der Regionalgruppe Neckaralb der Deutschen Olympischen Gesellschaft. Zudem ist er Mitglied des Verbands Deutscher Sportjournalisten (VDS).

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