Das versagte olympische Weihelied
Lücke in der Geschichtsschreibung: Gerhart Hauptmann und seine Rolle bei der Textfassung der Hymne für die XI. Olympischen Spiele 1936 in Berlin
[HISTORIE]
Von Christian Henke
1896 erklang bei den I. Olympischen Spielen der Neuzeit in Athen eine eigens für die Eröffnung als Auftragswerk geschaffene Olympische Hymne. Jahrzehnte später komponierte der US-amerikanische Pianist Walter Bradley Keeler eine neue Hymne, die über die Eröffnungszeremonie der X. Olympiade in Los Angeles 1932 hinaus Bestand haben sollte. Der deutsche Sportfunktionär Dr. Theodor Lewald (1860-1947) hatte als Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees einen großen Anteil daran, dass Berlin den Zuschlag für die XI. Olympischen Sommerspiele erhielt und zudem erreichte, dass Deutschland als traditionelles Land der Musik eine eigene Hymne für 1936 schaffen durfte.
- Ehrensache für Gerhart Hauptmann
Gerhart Hauptmann (1862-1946) und Richard Strauss (1864-1949) galten in den 1920er und 1930er Jahren als die hervorragendsten Instanzen des deutschen Literatur- und Musikschaffens. Was lag also näher für Theodor Lewald, der inzwischen zum Vorsitzenden des Organisationskomitees für die Sommerspiele 1936 avanciert war, als sich an die beiden Koryphäen der Wort- und Tonkunst zu wenden? Er nutzte sein Glückwunschschreiben zum 70. Geburtstag von Gerhart Hauptmann, des „Hochverehrten Meisters“ vom Wiesenstein, um ihn und sein Werk als Verkörperung des griechischen Ideals der Harmonie von Geistigem und Körperlichem zu umwerben. Geschickt verband er damit die Bitte um die Verfassung eines geeigneten Hymnentextes. Im Dezember 1932 legte Lewald mit einem als Präsent gedachten Foto des Propheten Joel in der Sixtinischen Kapelle nach, garniert mit schmeichelhaften Zitaten aus Hauptmanns „Griechischem Frühling“.
Die Antwort von Gerhart Hauptmann ließ nicht lange auf sich warten. Aus seiner Winterresidenz im norditalienischen Rapallo telegrafierte er an „Excellenz Lewald“ beinahe euphorisch: „… gewünschte Hymne Ehrensache werde nach Kraeften versuchen. Naeheres Brieflich.“ Im nachfolgenden Brief vom 3. Januar 1933 bittet Gerhart Hauptmann um Hintergrund-Informationen zur Geschichte der Olympiade, „zu der eine Hymne zu schreiben ich die Ehre haben soll“. Der vielversprechende Elan des Dichters speiste sich gewiss auch aus seiner sportlichen Vergangenheit. Bei ausgedehnten Wanderungen im Riesengebirge mit seinem Bruder Carl haben die beiden mit dem „Haus am Hang“ ihre erste Bleibe für sich und ihre Familien in Schreiberhau/Szklarska Poręba gefunden. Gerhart reklamierte in seinen Erinnerungen zudem die Einführung des Skifahrens im Riesengebirge für sich. In seinen reiferen Jahren beschränkte sich die sportliche Betätigung mehr oder minder auf seine täglichen „Produktivspaziergänge“, währenddessen sich seine Frau Margarete und Sohn Benvenuto regelmäßiger Gymnastik- und Sportübungen unter Anleitung des Trainers und Riesengebirgsvereins-Vorsitzenden von Agnetendorf/Jagniątków Paul Enge unterzogen.
In ungebremster Begeisterung und „größter Freude“ nahm Theodor Lewald in einem Brief vom 18. Januar 1933 an den „hochzuverehrenden Herrn Hauptmann“ die Zusage des Dichters auf und übermittelte ihm einen Abriss über die Bedeutung der „Modernen Olympischen Spiele“. Er gab zu verstehen, dass für die Komposition der Hymne nach Anraten des Musikschaffenden Max von Schillings (1868-1933) nur Richard Strauss in Frage käme. Allerdings hatte Lewald den Komponisten nach eigenem Bekunden bereits weit vorher erstmalig für ein solches Auftragswerk sensibilisiert. In einem Brief vom 1. April 1935 erinnerte er Richard Strauss an seinen damaligen Vorstoß: „Entsinnen Sie sich, dass ich schon im Herbst 1931 in Sils Maria [berühmter Urlaubsort der künstlerischen Elite im schweizerischen Engadin] Sie bat, die Hymne zu komponieren? So sind mehr als 3 ½ Jahre vergangen, bis mein Wunsch sich erfüllte!“mEntgegen seiner Ankündigung, Gerhart Hauptmann nach seiner Rückkehr aus Rapallo in seiner Riesengebirgsheimat aufzusuchen, um gesprächsweise das Hymnenthema zu vertiefen, sprechen alle Indizien dafür, dass ein solcher Besuch durch Lewald nicht stattfand. Der Kontakt zwischen beiden schien abgebrochen, wobei die Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten keine untergeordnete Rolle spielte.
- Ehrverletzung durch Börries von Münchhausen
Da von Gerhart Hauptmann keinerlei weitere Resonanz in Sachen Hymne erfolgte, wandte sich Lewald an die Deutsche Akademie der Dichtung mit dem Ansinnen, einen Hymnenwettbewerb unter den Mitgliedern dieser elitären Institution auszuschreiben. Die Akademie beauftragte ihren Ausschussvorsitzenden für die deutsche Sprache und frisch gewählten Senator Börries von Münchhausen (1874-1945), sich der Sache anzunehmen. In einem Rundbrief forderte er die Akademiemitglieder und eine Handvoll weiterer Literaten auf, sich an einem entsprechenden Preiswettbewerb zu beteiligen. Ein solches Schriftstück mit Datum vom 18. Dezember 1933 richtete er auch an „Herrn Dr. Gerhart Hauptmann“ in Agnetendorf.
Man sollte wissen, wie es um die Beziehung zwischen dem Nobelpreisträger Hauptmann und dem Balladendichter Münchhausen stand, um die Reaktion auf dieses Schreiben richtig einordnen zu können. Seit Jahrzehnten herrschte ein angespanntes, ja feindliches Verhältnis zwischen den Schriftstellern. Schon 1906 verkündete Börries von Münchhausen in seinem Aufsatz „Zur Ästhetik meiner Balladen“ mit deutlicher Anspielung auf Hauptmanns soziale Dramen im Stile des Naturalismus: „… nichts ist mir fataler als Kleinleutegeruch, Armeleutemalerei, schlesische Waschweibersprache, all das heiße Bemühen, mit subtilen Mitteln die Sprache und die Sprachgewohnheiten der Plebejer nachzuahmen. Mich interessiert der dritte und vierte Stand nur sozial, nicht künstlerisch.“ Andererseits urteilte Gerhart Hauptmann in seiner Tagebuch-Eintragung vom 7. August 1932 nach einem Besuch bei Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935), der Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) in Weimar anlässlich eines dort bevorstehenden „Dichtertees“: „Börries Münchhausen liest Gedichte vor, und Walter Bloem [1868-1951, deutschnationaler Schriftsteller] ehrt das Fest durch seine Gegenwart. Man möchte weinen, wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv gekommen sind!“
Dies vorausgesetzt, wird der provokative und ehrverletzende Charakter des Münchhausen-Rundbriefes überdeutlich. Gerhart Hauptmann machte seinem Ärger und seiner Wut in einem 17-seitigen Briefentwurf an die Deutsche Dichterakademie Luft, an dem er nachweislich vier Tage um Weihnachten 1933 intensiv laborierte. Seine Hauptkritikpunkte konzentrierten sich auf die unwürdige Form und Börries von Münchhausens Privatadresse als Absender, die Aussetzung von unangemessenen Bagatellpreisgeldern von 700 bis 100 Mark sowie der alleinigen Beurteilung und Preisvergabe durch Börries von Münchhausen. Hauptmann verglich den Wettbewerb mit einem „Sängerwettstreit“, der im Widerspruch zur Würde und Selbstachtung einer Akademie steht.
Er beschwerte sich zutiefst gekränkt über die nicht hinreichende Achtung seiner Person, sollte Börries von Münchhausen – was anzunehmen war – von der Abmachung zwischen ihm und Lewald vom 18. Januar Bescheid gewusst haben. Wegen der Verletzung dieser Abmachung und den unwürdigen Bedingungen des Wettbewerbs lehnte Gerhart Hauptmann seine Beteiligung ausdrücklich und kategorisch ab. Er drohte sogar mit der Niederlegung seiner akademischen Würde und in einem verworfenen Entwurfstext erklärte er gar seinen sofortigen Austritt aus der Akademie. Damit entledigte sich der Dichter vom Wiesenstein der schwebenden Verpflichtung zur Ablieferung eines Hymnentextes und kritisierte subtil die veränderte Haltung von Theodor Lewald, der es an weiteren Kontakten zu Hauptmann fehlen ließ.
Es verdichtet sich allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass Gerhart Hauptmann nicht die Courage fand, den vor Empörung strotzenden Briefentwurf auch tatsächlich an die Akademie zu versenden. Im historischen Archiv der Akademie der Künste in Berlin kann keine diesbezügliche Korrespondenz mit ihm nachgewiesen werden. Die Überprüfung der Nachlassbestände von Börries von Münchhausen in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: gleichfalls ergebnislos.
- Auf Ehre und Gewissen
Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Machtantritt Hitlers sind an Dr. Theodor Lewald ganz gewiss nicht spurlos vorübergegangen. Ihm war nicht entgangen, dass die neuen Machthaber in einem distanzierten Verhältnis zu Gerhart Hauptmann standen und es ist zu vermuten, dass er daraufhin seine Hymnentaktik änderte. Die Schaffung einer deutschen Olympiahymne mit Anspruch auf weltweite Verbreitung und Fortgeltung waren eine wichtige Triebkraft für sein Wirken im Organisationskomitee und sollten sein Vermächtnis als leitender Sportfunktionär für die XI. Olympischen Spiele werden.
Andererseits war er sich der Auswirkung seiner (väterlicherseits) jüdischen Abstammung im nationalsozialistischen Staat bewusst und musste sich sogar auf Drängen von Hitler aus dem Internationalen Olympischen Komitee zurückziehen. Gerhart Hauptmann vermerkt in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen vom 6. Juni 1935, „… dass es jetzt in Deutschland nicht bloß ‚Ehren-Arier‘ wie Francesco Mendelssohn [1901-1972, deutscher Cellist], sondern auch ‚Zeit-Arier‘ (Arier auf Zeit, Arier auf Widerruf) gibt, und führt den Fall Lewald an, der für die Zeit bis zu den Olympischen Spielen zum Arier ernannt worden ist, weil er Präsident des deutschen Olympischen Komitees ist und die andren Komitees in England, Frankreich usw. erklärt haben, seine Absetzung würde die Zustände in Deutschland in einem solchen Lichte zeigen, daß sie dann nicht mehr die Verantwortung übernehmen könnten, ihre Leute zu den Olympischen Spielen nach Berlin zu schicken. Vor der Drohung mit dieser Blamage hätten die Nazis Lewalds jüdisches Blut vorläufig, aber bloß auf Abruf geschluckt. Nach den Spielen wird Lewald dann endgültig Nicht-Arier.“ Für Börries von Münchhausen wiederum bot sich durch seine arrivierte Stellung im Akademiegefüge eine geeignete Gelegenheit, um dem Widersacher Gerhart Hauptmann eine ehrverletzende Niederlage beizubringen und ihn kalkuliert aus dem „Rennen“ um die Ehre des Hymnentextes zu nehmen.
- Ehre für einen Außenseiter
Wie gestaltete sich nun der weitere Ablauf des Bemühens um eine Olympiahymne? Als der Redaktionsschluss des Ausschreibens am 28. Februar 1934 erreicht war, lagen nur 9 Einsendungen von sieben Verfassern vor. Münchhausen wählte nach künstlerischen Aspekten ein „wunderschönes Siegfriedgedicht“ von Wilhelm Scholz (1863-1939) aus. Dr. Lewald befand dieses Gedicht aber „zu eigendeutsch“ und als Weihelied für alle späteren Spiele ungeeignet.
Was also tun? Man entschied sich für ein zweites, nunmehr für alle offenes und massenmedial verbreitetes Preisausschreiben bis zum 30. Juni 1934. Aus diesem Massenaufruf resultierten 3000 Liedtexte! Börries von Münchhausen wählte in einem mehrstufigen Prozess zunächst 50 und daraus wiederum vier der dichterisch wertvollsten Einsendungen aus. Die Vorlage dieser Favoriten bei Dr. Lewald und dem Komponisten Richard Strauss kürte nach dem Maßstab der Funktionalität bezüglich der Vertonung und des Sinngehalts der olympischen Ideale den arbeitslosen Rezitator und Schauspieler Robert Lubahn (1903-1974) aus Berlin zum Sieger. Im Winter 1934 zu 1935 vertonte der bekennende Sportabstinenzler und Präsident der Reichsmusikkammer Richard Strauss die Olympische Hymne von Lubahn. Der Text erfuhr nach Intervention des Goebbels-Ministeriums noch drei Änderungen, denen der Autor zwar nicht abschließend und eindeutig zustimmte, die aber trotzdem im Sinne des nationalsozialistischen Selbstverständnisses und seiner Propaganda vorgenommen wurden. Ende März 1935 kam es in der Wohnung des Reichskanzlers Adolf Hitler zum Vorspiel der Hymne, die von Strauss am Klavier begleitet wurde. Lakonisch vermerken die Aufzeichnungen der Reichskanzlei, dass die Hymne „genehmigt worden“ ist. Damit war der Weg frei für Richard Strauss, das Orchester- und Chordirigat beim Auftakt der XI. Olympiade am 1. August 1933 im Berliner Olympiastadium zu führen.
Für Robert Lubahn folgten langjährige Querelen um das Preisgeld von 1000 Mark und besonders mit dem Olympischen Komitee und der Strauss-Familie um die Rechte an Hymne und Text. Diese ließen es durchaus am olympischen Ideal des fair-play gegenüber dem weithin unbekannten und unbemittelten Hymnendichter fehlen. Nach einem erfolglosen Zwischenaufenthalt in der Schweiz und Kontakten zu den Exilanten Thomas Mann (1875-1955) und Hermann Hesse (1877-1962) wurde er zum Arbeitsdienst in der Organisation Todt und später zur Wehrmacht eingezogen. Nach Krieg und Gefangenschaft versuchte er sich ohne greifbaren Erfolg mit einigen literarischen Werken. „Kometenhaft war er auf das literarische Karussell aufgestiegen“, so schreibt der Sportjournalist Volker Kluge in einem Essay, „ebenso schnell warf es ihn wieder ab“. Lubahn starb 1974 in Stuttgart, ohne dass sein Hymnentext wieder aufgeführt wurde. Die Ironie der Geschichte wollte es so, dass die Londoner Ausrichter der nächstfolgenden Olympiade 1948 eigens wegen der Verstrickungen des Komponisten Richard Strauss in die nationalsozialistische Kulturpolitik auf diese Hymne verzichteten.
Gemessen an den Schwierigkeiten, die dem Textautor Robert Lubahn bei der Verteidigung bzw. Abänderung seiner Textvorlage bereitet wurden, dürfte Gerhart Hauptmann im Nachhinein erleichtert gewesen sein, nicht in den Strudel zwischen eigenem Werk und nationalsozialistischen Erwartungshaltungen gerissen worden zu sein.
Nachbemerkung
Ich danke Herrn Prof. Dr. hab. Krzysztof A. Kuczyński aus Łódz für die Ideengabe zu diesem Thema und seine Kooperation sowie seinen steten Zuspruch bei der Erarbeitung.
Literatur- und Quellennachweise
- Bundesarchiv Berlin, Bestand R 8077 (Organisationskomitee der XI. Olympischen Sommerspiele 1936)
- Deutsche Sporthochschule Köln, Carl und Liselott Diem-Archiv, Mappe 802 (Vorbereitungen auf die Spiele 1936)
- Kluge, Volker: The Story of the Olympic Hymn: the poet and his composer. Herisau: Journal of Olympic History 2, 2015
- Schlüssel, Elizabeth Audrey Leckie: Zur Rolle der Musik bei den Eröffnungs- und Schlussfeiern der Olympischen Spiele von 1896 bis 1972. Hamburg: Diplomica Verlag GmbH 2001
- Schmidt, Dörte: Richard Strauss. Der Komponist und sein Werk. München: Allitera Verlag 2017
- Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Konvolut GH Br NL C VII a
- wikipedia.org
- genius.com
- mdr.de/geschichte
- projekt-gutenberg.org (Gerhart Hauptmann Tagebücher 1918-1937)