Posted on / by Olympischesfeuer / in Allgemein, Bundes-DOG, Gesellschaft, Menschen, Sporträume

Ganzheitliches Denken gefragt – für Barrierefreiheit im Städtebau

von Andreas Hardt [MENSCHEN | ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT | SPORTRÄUME]

Der verdammte Rücken! Hat Sylvia Pille-Steppat ganz schön zugesetzt. Sogar so etwas wie Panik hervorgerufen. Das gibts ja auch nicht: Da liegt sie Ende April in Köln im ersten von drei nationalen Qualifikationsrennen für die Teilnahme an den Paralympischen Spielen in Tokio (24. August bis 5. September) gegen ihre Konkurrentin Manuela Diening aus Münster in Führung – und dann das: Verkrampfung, Schmerzen, Ende. Aus der Traum. Zu den beiden anderen Rennen konnte die 53 Jahre alte Hamburgerin gar nicht mehr antreten. Und der Deutsche Ruder-Verband (DRV) in Person von Bundestrainer Jochen Weber wollte deshalb tatsächlich Diening nominieren – Regeln sind halt Regeln. Punkt.

Die Hamburgerin fühlte sich da durchaus unfair behandelt. „Schließlich habe ich das Boot für den DRV für Tokio qualifiziert.“ Das war im September 2019 durch Platz fünf bei der WM in Linz. Im Oktober 2020 wurde sie Dritte bei der Europameisterschaft. Seit sie vor sieben Jahren in das Ruderboot umgestiegen ist, weil die fortschreitende MS-Erkrankung die ehemalige Hamburger Marathon-Meisterin gezwungen hat, den geliebten Laufsport aufzugeben, hat sie das Pararudern in Deutschland hoffähig gemacht. Und auch eine Sportlerin wie die 29 Jahre alte Manuel Diening motiviert, ins Ruderboot zu steigen. Und das sollte jetzt alles nicht mehr zählen?

Plötzlich war der sportliche Lebenstraum in Gefahr, dem sie seit sechs Jahren so viel untergeordnet hat. Vor den Spielen in Rio war sie noch auf etwas dubiose Art und Weise gescheitert, als bei einer internationalen Qualifikationsregatta plötzliche eine Chinesin auftauchte, die niemand jemals irgendwo zuvor gesehen hatte, die dann aber alles in Grund und Boden fuhr. Aber Aufgeben ist nicht – also volle Konzentration auf Tokio. Neben dem Job.

Sylvia Pille-Steppat, Team Deutschland Paralympics und Pararudern Athletin aus dem Team Hamburg, bei einem Fototermin im Hamburger Ding.

Die Architektin arbeitet seit dessen Gründung am 1. Januar 2019 im „Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg“. Mit drei weiteren angestellten Kollegen versucht sie, die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung in der Hansestadt  zu verbessern. Sie beraten Behörden,  Stadtplaner, Bauherren und Hamburger Einrichtungen dabei, die besonderen Anforderungen von Seh- oder Hörbehinderten ebenso mitzudenken wie die von Rollifahrern oder auch Nutzern von Rollatoren. „Es gibt reichlich zu tun“, sagt sie, „wir sind gut ausgelastet.“

Also heißt es, Sport und Beruf unter einen Hut zu bringen. Ihre Urlaubstage  verbringt sie nicht in der Sonne auf Mallorca, sondern schindet sich in der Ruderakademie Ratzeburg. „Ich habe hier eine halbe Stelle und kann die Tage auch sehr flexibel nutzen“, erzählt die aktuelle EM-Dritte. Auch „Home-Office“ mit dem Laptop aus einem Trainingslager hat es schon gegeben. „Die Kollegen unterstützen mich auch sehr gut. Sie wussten ja auch, wen sie da bekommen.“

Halt nicht „nur“ eine Leistungssportlerin, sondern eine diplomierte Architektin, die sich als Mitglied im Arbeitskreis inklusives Planen und Bauen bei der Hamburger Architektenkammer schon seit einigen Jahren mit diesem Thema befasst hatte. „Vor meiner MS-Erkrankung habe ich wie die meisten Menschen auch nicht besonders an die Bedürfnisse von behinderten Menschen gedacht“, räumt Sylvia Pille-Steppat freimütig ein, „wir wollen hier jedoch  ein Bewusstsein schaffen auch bei Leuten, die nicht betroffen sind.“

Das gelingt ihr als „Quartiersberaterin“ bei großen städtischen Neubauprojekten wie zum Beispiel im Stadtteil Altona oder in einem neuen Abschnitt der Hafencity. „Wir beraten ganzheitlich zur Umsetzung gesetzlich vorgeschriebener Barrierefreiheit. Wir empfehlen Lösungen, weisen auf Probleme hin und zeigen Handlungsbedarf auf“, beschreibt sie ihren Job: „Gewisse Anforderungen können dann in die städtebauliche Ausschreibung aufgenommen werden, an die sich die Bauherren und Investoren dann halten müssen.“

Aber auch im Sport ist ihre Expertise gefragt. Sylvia Pille-Steppat hat den Norddeutschen Regattaverein (NRV) bei dem barrierefreien Umbau seiner Steganlage an der Alster beraten. Der NRV hat sich so zu einem der Vorreiter für inklusiven Segelsport in Deutschland entwickelt. Auch ein benachbarter Ruderclub hat Klubhaus und Stege entsprechend angepasst.

Es tut sich etwas, das Bewusstsein für Zugangsmöglichkeiten und Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch im Sportbereich ist jedenfalls gestiegen. So wird die Stadt Hamburg in jedem ihrer sieben Bezirke mindestens eine barrierefreie Großsporthalle erreichten. Als „Privatperson“ sitzt Sylvia Pille-Steppat auch im Bauausschuss „ihres“ Wilhelmsburger Ruder-Clubs, der bis 2023 ein neues Klubhaus und Steg mit barrierefreier Einstiegmöglichkeit bekommt.

Ob sie dann noch als Leistungssportlich rudert ist ungewiss. Als Hobby aber wird sie es immer weitertreiben: „Auf dem Wasser hast du eine große Freiheit, kannst dich praktisch ohne Einschränkungen bewegen – und beim Rudern kann ich mich auch auspowern, das brauche ich.“

Jetzt kommt aber erst einmal Tokio. Nach einem Einspruch des Hamburger Ruderverbandes konnte Pille-Steppat nach der ausgeheilten Rückenverletzung bei einer internationalen Regatta Anfang Juni in Italien doch noch ihr Können beweisen. Der Rücken hielt, die Hamburgerin ruderte neue persönliche Bestzeit, wurde Dritte in einem Weltklassefeld und distanzierte Diening deutlich. Alles gut – ein sportlicher Traum wird mit einem Jahr Verzögerung doch noch wahr.

Fotos: picture alliance/dpa | Beitragsfoto: HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com | Text: Christian Charisius

Andreas Hardt (61) arbeitet nach über zwanzig Jahren als Redakteur beim sid und dapd seit 2013 als freier Journalist in Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist der Paralympische- und Behindertensport, daneben berichtet er über Golf, Fußball und diverse „bunte“ Themen, die die große, aber oft vernachlässigte Vielfalt des Sports ausmachen.

Schreibe einen Kommentar