„Wir wissen seit Jahrzehnten, dass Sport ganz stark mit Politik verwoben wird“
von Frank Schneller [ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT | RINGE]
Olympisches Feuer: Herr Hecker, wir befinden uns zwischen zwei Olympischen Spielen. Tokio ist Geschichte, Peking liegt vor uns. Zweimal Olympia inmitten einer Pandemie. Sie waren in Tokio. Auch mit inzwischen mehreren Monaten Abstand dazu stellt sich die erste Frage nahezu von selbst: War’s damals richtig, die Spiele – und in der Folge auch die Paralympics – auszurichten?
Anno Hecker: Ich tue mich schwer zu beurteilen, ob sie unbedingt hätten stattfinden sollen. Es gibt mehrere Perspektiven. Durch die Brille eines leidenschaftlichen Sportjournalisten betrachtet, habe ich mich gefreut, dass man erstklassige Wettkämpfe mit Top-Athleten und aus aller Welt sehen konnte. Und das auf exquisiten Sportstätten.
Die Organisatoren hatten, das haben mir Sportler verschiedenster Sportarten berichtet, beste Bedingungen geschaffen. Aus Sicht der Athleten war es ebenfalls enorm wichtig, dass diese Spiele stattfanden, dass sie für ihre Mühen belohnt wurden, zumal rund 60 Prozent von ihnen keine zweite Teilnahme-Chance haben werden.
Aber man muss auch an das Gastgeberland denken. Es war lange klar, dass die japanische Bevölkerung seinerzeit erhebliche Sorgen formulierte. Sie war nicht gegen die Spiele an sich, sondern gegen den Zeitpunkt der Austragung. Diese über Umfragen bekannt gewordenen Sorgen sind nicht geringer geworden. Zuletzt konnte man das auch mit Blick auf die Paralympics feststellen: Da hieß es im Vorfeld, man wolle bis zu 100.000 Schulkinder auf die Tribünen lassen – aber bis vor Ende der Spiele zählte man nur knapp 8.000 in den Arenen. In Zeiten der Pandemie ist dies sicher auch ein Zeichen von Angst. Zum Zeitpunkt dieses Interviews wissen wir auch nicht verlässlich, ob es nicht doch einen Zusammenhang zwischen den Sommerspielen und dem Anstieg der Inzidenzen im Notstandsgebiet Tokio gegeben hat. Vermutlich wird das auch nie geklärt werden.
Olympisches Feuer: Wie funktioniert Sportjournalismus in der Pandemie?
Anno Hecker: Wir müssen hingehen! Jeder von uns wird spüren, dass man zunehmend von dem zehrt, was man aus der Vergangenheit weiß und erlebt hat. Dass man auf die eigene Erfahrung angewiesen ist. Aber durch die Präsenz muss man diesen Fundus wieder auffüllen. Durch Gespräche, Dinge, die man nicht planen kann, die einem begegnen, durch Austausch, durch das Live-Erlebnis. All das geht nur vor Ort. Man hat im Stadion eine andere Perspektive. Die durch die Kamera ist, egal wie viele Kameras man noch installiert, nicht die des eigenen Auges, sondern eine eingeschränkte.
Das Fernsehbild ist gut und wichtig. Aber der Zuschauer zuhause am Bildschirm kann nicht riechen oder schmecken, Vibrationen spüren. Selbst das Hören ist nicht eins zu eins mit dem Live-Erlebnis zu vergleichen. Diese Nähe ist wichtig für uns Berichterstatter. Das ist die Basis für guten Journalismus. Dafür braucht man zunächst Nähe.
Olympisches Feuer: Wird Sportjournalismus künftig mit dem vor Corona zu vergleichen sein?
Anno Hecker: Nichts wird wieder so werden wie es war. Die eine oder andere Entwicklung ist ja auch ganz gut. Es muss nicht alles wieder zurückgedreht werden. Aber: Ich habe– vor allem bei den sogenannten super-professionellen Sportarten – den Eindruck gewonnen, dass bestimmte Beschränkungen und Zwänge, die durch die Pandemie entstanden sind, Verbänden, Vereinen und Protagonisten durchaus gefallen. Da wird eine Distanz aufgebaut, die mancher als neu gewonnene Freiheit auslegt. Dass versucht wird, Botschaften direkt zu setzen oder Dinge zu verhindern, durch eigenen Inhalt, vorbereitete Verlautbarungen – also durch Weglassen und Hinzufügen, je nach Bedarf – ist kein neuer Prozess. Das wird so bleiben oder gar zunehmen, unabhängig von der Pandemie. Die hat das höchstens noch etwas getriggert. Über die Rolle der Social Media in diesem Zusammenhang wurde ja schon vorher viel diskutiert.
Olympisches Feuer: Ein Synonym für den sich ändernden Austausch zwischen Aktiven und Medien waren neben der weiteren Zunahme an vorproduziertem Content, vorgekauten Statements und Botschaften zuletzt vor allem auch virtuelle Pressekonferenzen und Webcam-Interviews. Werden diese die Pandemie überdauern?
Anno Hecker: Viele glauben, sie funktionieren. Ich behaupte, sie funktionieren nicht so gut. Und zwar für beide Seiten. Das müsste man mal mit der anderen Seite diskutieren. Wenn Sie eine Botschaft verbreiten wollen – und Charisma haben –, wäre die Präsenz-Pressekonferenz für Sie vorteilhafter als die digitale. Und umgekehrt: Ein Journalist nimmt die Menschen anders wahr und spürt auch Schwingungen: Gestik, Mimik, Tonfall – das ist live im Raum viel greifbarer. Hat vielmehr Nachdruck. Jemand mit Ausstrahlung kann diese viel besser zum Ausdruck bringen als virtuell. Ich denke: Jene, die meinen, es wäre nicht vorteilhaft, mit uns im Saal zu sein, werden weiter drauf verzichten. Die Matadoren und Volkstribune aber werden es wieder machen.
Olympisches Feuer: Blicken wir auf Peking und Katar – zwei undemokratische Gastgeber. Wie gehen wir das als Journalisten an? Was erwartet uns?
Anno Hecker: Ein unglaublich interessantes Berichterstattungsfeld. Peking wird sehr spannend – man muss das ja im Gesamtkontext sehen. Und der ist ein politischer. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass Sport ganz stark mit Politik verwoben wird. Nicht nur von Staaten, auch von den Sportverbänden, vom IOC, das reicht bis hin zu den Athleten und auch Medien. Wie gehen wir damit um? Ich bin der Auffassung, dass wir in erster Linie Journalisten sind und uns spezialisiert haben. Wer zum Skispringen geschickt wird, sollte den Sport im Fokus haben, aber auch die Augen offenhalten für das, was drum herum geschieht, was es beeinflusst. Das muss nicht in jedem Text mitschwingen. Nicht jedes Stück zur Tour de France muss einen Absatz zum Thema Doping enthalten, damit es als gut bewertet werden kann oder unangreifbar erscheint, falls sich im Nachhinein eine Manipulation offenbart. Aber wir sollten uns davor bewahren, mit Scheuklappen durch die Gegend zu laufen. Man muss keine politische Berichterstattung machen, aber die politischen Zusammenhänge und Motive erkennen und ansprechen. Der Sport ist, nicht nur bei Olympia, sehr politisch.
Olympisches Feuer: Verheben wir uns dabei aber nicht manchmal? Müssten wir uns nicht häufiger Support aus anderen Ressorts holen?
Anno Hecker: Es wäre ratsam, auch für den eigenen Horizont, daran zu denken. Oder Korrespondenten einzubinden, wie in unserem Falle in Tokio den Kollegen Patrick Welter. Der hat uns informiert, mit uns diskutiert, Einblicke verschafft. Wir alle stellen doch fest: ‚Das überfordert mich jetzt. Darüber weiß ich nicht genug’ Wir können nicht Trainingswissenschaftler, Mediziner, Physiologen, Ingenieure, Politologen, Soziologen, Psychologen … in einem sein, vermutlich die wenigsten von uns. Aber das ist auch nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe und hohe Kunst ist es, deren Wissen zu sammeln, zu übersetzen, einzuordnen. Wenn es dazu gelingt, die Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ressorts, die Korrespondenten zu gewinnen, dann kann das sehr befruchtend sein.
Olympisches Feuer: Die Biden-Regierung ist unlängst mit einem diplomatischen Boykott der Peking-Spiele seitens der USA vorangegangen. Andere folgten oder dürften noch folgen. Haben Sie das erwartet? War so etwas vorhersehbar?
Anno Hecker: Ja. An einen Boykott der Winterspiele wie einst in Moskau 1980 oder Los Angeles 1984 habe ich zwar nicht geglaubt. Aber wir hörten ja seit geraumer Zeit von Politikern, dass sie für einen Boykott zumindest der Politik-Prominenz werben.
Olympisches Feuer: Worauf sind Sie noch gespannt?
Anno Hecker: Es wird darauf zu achten sein, wie weit die Restriktionen wegen der Pandemie reichen. Die werden vermutlich noch schärfer sein als in Japan. Man muss beobachten, ob Corona zur Kontrollausweitung benutzt wird.
Olympisches Feuer: Und Katar …
Anno Hecker: … spielt in der Weltpolitik eine ganz andere Rolle. Katar will sich mit Nachdruck positionieren in der Region. Die Bedingungen dort genau unter die Lupe zu nehmen, ist unbedingt nötig. Aber: Wir sollten auch bereit sein, Veränderungen anzuerkennen, wenn es sie denn gibt. Am besten ist es, sich selbst ein Bild zu verschaffen und sich nicht auf Berichte anderer zu verlassen, von wem sie auch kommen. Auch für diese WM gilt: Schickt Kolleginnen und Kollegen hin, die über Fußball schreiben, lasst sie aber auch über den Tellerrand schauen.
Olympisches Feuer: Die Peking-Boykotts aufgrund der Menschenrechtsverletzungen vor Ort haben bei den Machthabern Chinas natürlich scharfe Kritik hervorgerufen. Darüber faktisch zu berichten, ist eine Sache. Aber inwieweit sollte Haltung im Sportjournalismus mitschwingen? Und wer hat dabei die absolute Deutungshoheit?
Anno Hecker: Haltung finde ich generell wichtig. Der Schutz der Menschenwürde und der –rechte sind indiskutabel. Aber schon die Frage, wie sich Aktive oder Funktionäre äußern dürfen während des Wettkampfs führt zu heftigen Diskussionen. Was ist denn eine politische Haltung? Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung – so etwas halte ich nicht für politisch. Aber die Unterscheidung, wer sich wann und wie äußern darf oder gar sollte, die ist schon komplizierter. Mit der Deutungshoheit tue ich mich schwer. Ich habe noch keinen vernommen, der den Stein der Waisen gefunden hat.
Formel 1 und Fußball haben den Protest der Blacklivesmatter-Bewegung teils institutionalisiert. Aber hinter vorgehaltener Hand kriegt man dann aus Verbandskreisen zu hören: So richtig durchziehen können wir das ja eigentlich gar nicht, denn dann bekommen wir noch ganz andere Botschaften in den Stadien oder kurz vor Beginn der Wettkämpfe. Lewis Hamilton hat zum Beispiel mal die Inhaftierung von Polizisten gefordert, so stand es auf einem T-Shirt während einer Siegerehrung. Das ist nicht verboten worden. Aber für das nächste Rennen wurde die Kleiderordnung so umformuliert, dass er jeder nur noch in Teamklamotten auftreten darf…
Olympisches Feuer: Das politische Statement im Stadion oder in der Halle – richtig oder falsch?
Anno Hecker: Schwierige Frage. Während Sportevents und Siegerehrungen hat es schon politische Botschaften gegeben, die ich persönlich schrecklich fand. Außerdem: Was, wenn die Botschaft unserem Wertekompass nicht entspricht? Ich wünsche mir zwar, dass es diese Meinungsfreiheiten im Stadion gibt, überall auf der Welt, aber ich sehe noch keine Formel, wie das richtig gehandhabt werden kann. Und so lange das so ist, würde ich dafür plädieren, es während Wettkämpfen zu lassen.
Andererseits: Wenn schon die Wahl Pekings als Winterolympia-Austragungsort eine politische Botschaft ist – und das ist sie –, darf man Aktiven doch nicht untersagen, sich ebenfalls zu positionieren. Das ist eine sehr komplexe Debatte.
Der Journalismus hat dabei zunächst die wichtige und schwere Aufgabe, herauszufinden: Was ist tatsächlich guter Wille, was Instrumentalisierung, was Opportunismus? Ich finde, das wiederum gelingt insgesamt ganz gut. Vor allem dann, wenn erkennbar wird: Einzelne Athlet riskieren etwas. Gehen ins Risiko, um eine Haltung zu demonstrieren. Das überzeugt mich am meisten. Chapeau. Aber Sie merken: Ich sehe noch keine alles umfassende Lösung. Ich finde es aber einen wunderbar, dass dieses Thema durch den Einsatz von Athletinnen und Athleten endlich die Aufmerksamkeit und Plattform bekommt, die angemessen ist. Wenn das so bleibt, dann bin ich überzeugt, dass kluge Menschen eine Lösung finden.
Fotos: Beitragsbild: Deniz Calagan/dpa | Text: picture alliance / dpa | Martin Schutt
Frank Schneller (50), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.