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Zeitenwende 2.0? Russlands Rückkehr in den Weltsport

Das IOC hat mit seiner Ankündigung, russische Sportlerinnen und Sportler auf die Bühne des olympischen Sports zurückkehren lassen zu wollen, ein sportpolitisches Chaos ausgelöst. Aus den deutschen Kommentaren in Richtung Präsident Thomas Bach spricht Empörung. Der wiederum wehrt sich mit einer Deutungsumkehr von Begriffen wie Moral oder Solidarität. Und verweist auf die Autonomie und Neutralität des Sports.

Von Frank Schneller (mit Material von SID und DPA)

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Er hatte sich sukzessive herangetastet an dieses Thema. Einen Vorstoß ausgetestet und vorbereitet, von dem er wusste, welche Reaktionen dieser vor allem in der westlichen Welt, insbesondere in seiner Heimat Deutschland hervorrufen würde. Bereits im Januar – nicht zuletzt auch in einem Interview mit Ewald Walker für dieses Portal – hatte IOC-Chef Thomas Bach die Rückkehr russischer Sportlerinnen und Sportler auf die olympische Bühne avisiert: „Man muss unterscheiden zwischen Russland und Athleten, die in Russland geboren sind und nichts für diesen Krieg können.“

Als würde das Leid der Ukraine und ihrer Sportlerinnen und Sportler anderweitig schon genug im Mittelpunkt stehen, richtete er den Fokus – quasi der Fairness halber – auf die Aktiven aus dem Land des Aggressors: „Wir müssen die jungen russischen Athleten sehen, die sich seit Jahren auf sportliche Wettbewerbe vorbereiten, die nicht diskriminiert werden dürfen und für diesen Krieg nicht verantwortlich sind. Wir müssen überlegen wie sie, wenn sie die olympische Charta respektieren und nicht aktiv den Krieg unterstützen, wieder integriert werden können. Klar ist, dass sie dafür vollkommen neutral sein müssten, also nicht russische Repräsentanten, sondern individuelle Athleten.“

Das sei alles auch „nicht so schwierig, da es unserem westlichen demokratischen Menschenbild entspricht, dass ich nicht jeden Menschen bestrafen kann für das Handeln seiner Regierung, sondern nur für Aktionen, für die er selbst die Verantwortung trägt“. Die ökonomischen Interessen, die eine Institution wie das IOC nun einmal verfolgt, dienten – wenig verwunderlich – ihm nicht zur Argumentation.

 

IOC-Vorstoß „verheerendes Signal“

Folgerichtig und vorhersehbar legte das Internationale Olympische Komitee mit einer entsprechenden Empfehlung an die Welt-Fachverbände unlängst nach. Zum Entsetzen vieler Protagonisten der deutschen Sport- und Politikszene. Eine ‚Zeitenwende-Wende‘?

„Kein Platz für Putins Russland bei Olympia“, forderte Hans-Joachim Lorenz, Vizepräsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft, in seinem Kommentar auf dieser Plattform. Zahlreiche Athletinnen und Athleten, darunter die deutschen Stars Malaika Mihambo und Florian Wellbrock, kritisierten die IOC-Entscheidung.

Auch Maximilian Klein meldete sich zu Wort: „Man sendet damit ein verheerendes Signal”, sagte der Direktor für Sportpolitik und Strategie des Vereins ‚Athleten Deutschland‘. „Der neutrale Status schützt nicht davor, dass die Individualathleten von dritter Seite für Kriegspropaganda instrumentalisiert werden”, betonte Klein: „Uns kommen die Interessen, Rechte und Schutzbedürfnisse der ukrainischen Athletinnen und Athleten zu kurz.”

Stattdessen würden die Interessen der russischen Seite eine viel stärkere Beachtung finden, kritisierte Klein: „Es geht hier auch um einen Bruch mit den Werten der olympischen Bewegung. Und wenn ein Aggressor, der einen Staat überfällt, Teil dieser Bewegung bleiben darf, obwohl diese sich für Frieden einsetzen sollte, dann ist das Hohn und Spott für die Opfer des Krieges.”

 

Nun droht ein Boykott der Ukraine

Auch die Tatsache, dass Athleten aus Russland und Belarus, die dem Militär angehören, ausgeschlossen bleiben sollen (“Minimallösung”), taugt Klein nicht: „Es sind Empfehlungen, die von den Weltverbänden übergangen werden können.” Auf diese Weise entstehe „organisierte Verantwortungslosigkeit, wie wir sie auch schon im russischen Staatsdoping-Skandal beobachtet haben”. Einen Kollektivausschluss zu ersetzen durch hunderte, kaum eindeutig herzuleitende Individual-Entscheidungen – das ist eine offene Schleuse für Willkür und endlosen Streit.

Die Empfehlungen des IOC-Exekutiv-Komitees, darin sind sich die Kritiker hierzulande einig, steigerten außerdem das Risiko eines Boykotts ukrainischer Sportler bei internationalen Events, insbesondere bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris. Erste Aussagen und Anzeichen hierfür von Seiten der Ukraine gibt es bereits. „So werden die eigentlichen Opfer zum Rückzug gezwungen”, sagt Klein. Er hofft: „Die Fachverbände können immer noch Haltung zeigen. In der Leichtathletik sehen wir, dass ein Kollektivausschluss weiterhin möglich ist.” Der Reitsport-Weltverband beispielsweise hat gerade ein Exempel statuiert und bleibt beim Bann gegen Russland und Belarus.

Doch die Front bröckelt. Im Fechten. Im Tennis. Noch nicht flächendeckend. Und nicht geräuschlos. Doch sie wird durchlässiger. Es droht Chaos, wenn jeder Weltverband autonom entscheidet. Zumal es mit Blick auf Paris 2024 dann auch um Olympia-Qualifikationen geht. Das Hin- und Hergeschiebe der Verantwortung zwischen IOC und den Verbänden ist längst auch auf dieser Ebene im vollen Gange. Wer nicht gefragt wurde bislang: Die Aktiven aus der Ukraine.

Derzeit schwer vorstellbar: IOC-Chef Thomas Bach und Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj einträchtig auf einer Bühne – wie hier 2019 in Lausanne.

 

Ist die westliche Haltung maßgebend?

Thomas Bach verlagert indes die Diskussion. Ganz bewusst. Er wehrt sich gegen die Kritik an seinem Ansinnen, „vor allem der aus Europa“. Und er setzt dabei gewiss darauf, dass der westliche Wertekompass von einer globalen Mehrheit in seinem Sinne um- oder zumindest nachjustiert wird – ähnlich wie das bei der vor allem im Westen kritisierten Fußball-WM der Fall war. Der Rest der Welt hatte sich letztlich darauf beschränkt, in Katar Tore zu bejubeln statt Menschenrechte einzufordern. Die Empörung dort wurde regelrecht ausgesetzt.

Was auf dem Hoheitsgebiet der FIFA zu erleben war, das könnte auch in der IOC-Welt geschehen. Funktionieren sogar? Ein derartiges Kalkül liegt zumindest nahe. Wenngleich die Tragweite eine andere ist. Diesmal geht es um Krieg. Um einen Überfall. Mit globalen Folgen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte die IOC-Entscheidung daher als „Schlag ins Gesicht der ukrainischen Athletinnen und Athleten” bezeichnet. Polens Außenminister Piotr Wawrzyk sagte: „Es ist ein Tag der Schande für das IOC.” Das sieht Bach anders. Es sei „bedauerlich, dass einige Regierungen weder die Mehrheit in der Olympischen Bewegung respektieren, noch die Autonomie des Sports anerkennen, die sie sonst loben und von anderen Ländern in zahllosen Reden, UN-Resolutionen und EU-Erklärungen verlangen”. Er deutet die Begrifflichkeiten um. Mit Moral braucht man ihm nicht zu kommen – er hat seine eigene. Zumindest legt er sie anders aus. Der Perspektivwechsel fällt ihm dabei leicht.

Die Interventionen der Regierungen stärkten die Einheit der Olympischen Bewegung sogar noch, behauptete der IOC-Chef zum Abschluss einer dreitägigen Sitzung seiner Exekutive in Lausanne. Und erklärte erneut: Keine Regierung dürfe über den Start der Sportlerinnen und Sportler aus politischen Gründen entscheiden. Das wäre „das Ende des Weltsports, wie wir ihn kennen”.

 

Sportpolitisch schwere Zeiten garantiert

Die tatsächliche Entscheidung über den Start russischer und belarussischer Athleten an den Olympischen Spielen 2024 steht aus. Man wolle abwarten, heißt es in Lausanne, wie sich die IOC-Empfehlung auswirke. In diesem Sommer werde da noch nichts entschieden, so Bach – ungeachtet der Regel 44.1 der Olympischen Charta, die vorschreibt, dass das IOC ein Jahr vor Eröffnung der Olympischen Spiele Einladungen an die Nationalen Olympischen Komitees versenden muss. Am 26. Juli 2023.

Aber die Olympische Charta, die olympische Idee, das hatte bereits Hans-Joachim Lorenz in seinem Kommentar betont, sei ohnehin schon aus den Angeln gehoben durch den russischen Angriff auf die Ukraine.

Ob Bach sich vorstellen könne, dass deren Sportlerinnen und Sportler nun auch gegen russische Kontrahenten in ihren Disziplinen antreten, hatte der DOG-Funktionär gefragt. Die Antwort darauf liegt mittlerweile vor.

Worüber auch Klarheit herrscht: Auf den olympischen Sport kommen viele weitere schwere Monate zu. Das Aushalten des Skandal um die Umgehung des russischen Staatsdopings erscheint dabei rückblickend fast wie eine Generalprobe. Designed by IOC.

 

 

Frank Schneller (53), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.

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