‚Jo‘ Deckarm: Eine Ausnahmepersönlichkeit wird 70. Teil 2
Er galt als bester Handballer der Welt. Als Model-Athlet. Ein schwerer Schicksalsschlag aber veränderte alles. Seine Geschichte ist bekannt, berührt aber bis heute die Menschen. Am 19. Januar wird Joachim Deckarm 70 Jahre alt. Die DOG widmet sich aus diesem Anlass der Ausnahmepersönlichkeit aus mehreren Perspektiven. Zusammengetragen von langjährigen Weggefährten, Helfern und Freunden. Der zweite Teil beschreibt den tragischen Sportunfall und die unnachgiebige Rehabilitation Deckarms danach.
[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]
Redaktion mit Hilfe von Reinhard Peters
Der Unfall[1]
Es ist Freitagnachmittag, 30. März 1979: In Tatabanya (Ungarn) findet das Rückspiel im Halbfinale des Europapokals zwischen dem VFL Gummersbach und Banyasz Tatabanya statt. Die Ausgangssituation für den VfL ist durchaus komfortabel, wurde doch das Hinspiel in der Dortmunder Westfalenhalle vor 12.000 Zuschauern deutlich mit 18:10 gewonnen. Entscheidend beteiligt an diesem Ergebnis war Joachim, der mit sechs Toren erfolgreich war. Dies vor dem Hintergrund, dass man bis kurz vor dem Spiel noch um seinen Einsatz bangen musste, weil er sich nur wenige Tage zuvor bei einem Lehrgang der Nationalmannschaft verletzt hatte.
Für Joachim sollte das Spiel in Tatabanya zu einem Spiel werden, das sein weiteres Leben auf tragische Weise verändern wird: Bereits in der sechsten Minute des Halbfinales erhält Joachim bei einem Zweikampf in der Abwehr unbeabsichtigt einen Schlag ins Gesicht und muss auf der „Bank“ behandelt werden. Zehn Minuten später – beim Stand von 5:5 – kehrt Joachim auf das Spielfeld zurück. Ein etwas unplatzierter Torwurf von ihm wird vom ungarischen Torwart gehalten. Der von diesem schnell eingeleitete Gegenstoß wird aber von Heiner Brand abgefangen und blitzschnell zu Joachim gespielt. Dieser ist voll auf das Zuspiel konzentriert und sieht daher den auf ihn zulaufenden ungarischen Gegenspieler, Lajos Panovics, der den Angriff unterbinden will, nicht. Beide Spieler prallen in der Luft mit den Köpfen zusammen und Joachim stürzt – bereits bewusstlos – völlig unkontrolliert auf den harten Hallenboden, ein lediglich mit dünnem PVC-Belag überzogener Zementuntergrund. Joachim schlägt mit der linken Seite seines Kopfes schwer auf dem Boden auf und bleibt reglos liegen.
Nach 131 Tagen im Koma wacht Joachim am 08. August 1979 endlich aus dem Koma auf. Er hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, das bleibende Schäden hinterlassen wird.
Nach 23 Minuten Spielzeit in Tatabanya endete auf tragische Weise nicht nur die sportliche Karriere des zu dieser Zeit wohl einer der besten Handballer der Welt, sondern auch das selbstbestimmte Leben des großartigen und stets lebensfrohen Menschen Joachim Deckarm.
Die Rehabilitation
In den Monaten nach dem Erwachen aus dem Koma lebt Joachim zeitweise zu Hause. Seine Eltern erhalten bereits in dieser Zeit in der Betreuung Unterstützung: Seine ehemalige Volksschullehrerin, Hildegard Arend, bemüht sich um das Wieder-Erlernen von Schreiben und Lesen, sein ehemaliger Realschullehrer, Peter Wacker, wird sein „Schachpartner“. Auch der Ausrüster von Joachim lässt ihn nicht im Stich: Im Juli 1980 lädt die Familie Dassler die Familie Deckarm zu einem Aufenthalt in das „Adidas-Hotel“ in Herzogenaurach ein.
In der Folgezeit wird von 1980 bis 1982 in verschiedenen Rehakliniken versucht, Joachim soweit zu fördern, dass er körperlich und geistig in der Lage ist, möglichst ein zumindest halbwegs selbstständiges Leben ohne fremde Hilfe zu schaffen. Dies gelingt leider nicht im erhofften Maß. Im Juni 1982 wird Joachim schließlich als nicht mehr therapierbarer „Pflegefall“ nach Hause entlassen. In den kommenden Wochen kümmern sich die Eltern weiterhin intensiv um ihren Sohn.
Im September 1982 treffen Joachim und sein Vater in der Schwimmhalle an der Sportschule in Saarbrücken Joachims ehemaligen Trainer Werner Hürter. Dies war ein Glücksfall für die Familie und für Joachim: Werner Hürter erkennt bei seinem ehemaligen Schützling, dass der sich mit seinem Zustand nicht abfinden will. Die sechs Worte von Joachim „Ich kann, ich will, ich muss“[2] veranlassen Werner Hürter, sich intensiv um ihn zu kümmern. Aus dem Lehrstab des Handball-Verbandes Saar kommt Reinhard Peters im Dezember 1982 zu seiner Unterstützung hinzu und beginnt bereits im Januar 1983 damit, Werner Hürter bei seinen ersten „Weichenstellungen“ zu unterstützen. „Aus einem `hoffnungslosen Fall`, der zudem noch die Öffentlichkeit scheut, einen Menschen zu machen, dem das Leben wieder Spaß macht und der auch am Leben wieder teilnimmt“[3], waren für Reinhard Peters Herausforderung und besondere Motivation.
Nach dem Studium einer Vielzahl relevanter Fachliteratur zur Arbeit mit hirngeschädigten Menschen müssen Werner Hürter und Reinhard Peters zunehmend erkennen, dass die traditionellen Behandlungsmethoden bei Joachim nicht wie erhofft anschlagen, dass sie offensichtlich nicht ausreichend sind.
Ein Buchauszug in „Das Beste aus Reader´s Digest“ vom Juli 1983 mit dem Titel „Du schaffst es, Kathy“ von Joan Collins führt zur Kontaktaufnahme mit den Institutes for the Achievment of Human Potential in Philadelphia/USA. Der Director des Instituts, Edward B. Le Winn, gibt Hürter und Peters einen entscheidenden Hinweis für die weitere Betreuung: „Wether or not Herr Deckarm is in coma, I would suggest that you obtain und read the book „What to do about your brain-injured child” by Glenn Doman. Its contens are applicable to brain-injuried people of all ages….“[4]. Das in Deutschland 1980 unter dem Titel „Was können sie für ihr hirnverletztes Kind tun?“ veröffentliche Buch wird in der weiteren Rehabilitation und Betreuung von Joachim zur maßgeblichen Lektüre.
Die Erkenntnis, dass auch dies alles nicht genügt, führt auf Bitten von Joachims Mutter Ruth dazu, dass der Realschullehrer Heinz Schuler „verpflichtet“ wird, der zweimal wöchentlich die Mathematikkenntnisse von Joachim „auffrischt“.
Die Artikulation und das Sprechvermögen von Joachim lässt damals noch viel zu wünschen übrig. Der Sprachheilpädagoge Prof. Dr. Bindel wird Mitglied im „Team“: Er übernimmt Maßnahmen zur prozessorientierten Therapie bei motorischer Aphasie (zentrale Sprachstörung nach abgeschlossener Sprachentwicklung). Der Erfolg in den kommenden Jahren ist erstaunlich: Joachim ist wieder in der Lage, für Presse, Rundfunk und Fernsehen Interviews zu geben, ohne dass größere Schwierigkeiten auftreten ihn zu verstehen. Immer mehr Menschen, die Anteil am Schicksal von Joachim nehmen, unterstützen die Arbeit des Teams. Der ehemalige Feldhandballweltmeister Volker Schneller knüpft den Kontakt zu Prof. Dr. Klümper in Freiburg im Breisgau.
Dieser erklärt sich bereit, sich Joachim anzunehmen. Im Oktober 1983 erfolgt die erste Behandlung. Der Therapieplan wird durch krankengymnastisches Training, manuelle Therapie und Auftriebsgymnastik im Wasser ergänzt. Mit einer Infiltrationstherapie (Einbringen von Substanzen ins Gewebe durch Injektion) versuchen Prof. Dr. Klümper und Kollegen die Gefäße und die Cerebralsklerose (krankhafte Hirnverhärtung) zu beeinflussen, den Immunhaushalt zu verbessern, die Störungen der Gehirnfunktionen zu beseitigen, der Muskelrückbildung entgegenzuwirken, knorpelige Gelenkveränderungen in rheumatischer Form zu verhindern und grippalen Infekten vorzubeugen.[5]
Das überaus komplexe Trainingsprogramm wird zu Hause von den Betreuern fortgeführt. In Intervallen von drei Monaten wird die begonnene Infiltrationstherapie in Freiburg fortgesetzt. Prof. Dr. Klümper scheut sich auch nicht, weiter zu experimentieren. Eine medikamentöse Therapie kommt hinzu. Bis zum Jahr 2000 werden diese Behandlungen und Betreuungen in 90 Behandlungswochen weitergeführt.
In den folgenden Jahren vergrößert sich das Team: Ab 1994 kommen die Leichtathletikkameraden Wolfgang Klein und Michael Volz dazu, Albert Hippchen, übernimmt morgens die Betreuung für den erkrankten Werner Hürter. Weitere Helfer und Unterstützer, die nie erwähnt oder genannt wurden, sind die Handballfreunde von Reinhard Peters: Heribert Klasen, Jürgen Schwarz und Franz Steißlinger.
2002 ist Joachims Mutter aus Altersgründen nicht mehr in der Lage, ihn in der Woche zu Hause allein weiter zu betreuen. Joachim zieht in eine Wohnung des „Haus der Parität“ mit „betreutem Wohnen“ in der Saarbrücker Innenstadt ein. Das hat auch zur Folge, dass das Engagement der Ehrenamtlichen zurückgefahren werden muss, um Joachims Tagesablauf in der neuen Umgebung nicht zu stören.
An den Wochenenden kehrt Joachim noch zu seiner Mutter nach Hause zurück und Reinhard Peters unterstützt Mutter und Sohn in dieser Zeit. Ende 2009 endet auch diese Phase. Inzwischen ist auch vom Verwaltungsausschuss des „Joachim Deckarm-Fonds“ (https://www.sporthilfe.de/deckarm-fonds ) bei der Stiftung Deutsche Sporthilfe eine hauptamtliche Betreuerin, Nicole Rosch, engagiert worden. Sie kümmert sich fortan um die Belange von Joachim.
Mit ihrer Unterstützung lebt Joachim in einer eigenen Wohnung in Saarbrücken bis ihn 2018 schließlich sein Bruder Herbert nach Gummersbach holt, da selbst mit der Unterstützung durch Frau Rosch ein eigenständiges Leben in der bisherigen Weise nicht mehr möglich ist. Im alten Umfeld und in der Nähe seines engen Freundes, Heiner Brand, blüht Joachim zunächst auf. Doch die Herausforderungen seines Alltags sind nicht zu leugnen, selbst wenn ihn die Handballfamilie nicht vergessen hat und auch die Stiftung Deutsche Sporthilfe ihm weiter zur Seite steht. Der Fonds dient seit Jahren der Mitfinanzierung der aufwändigen Behandlungen, Medikationen, Therapien, Rehamaßnahmen und Kuren, die Joachim Deckarm benötigt. Das Fonds-Kapital nährt sich aus Spenden und den Erlösen zahlreicher Benefizspiele – vor allem von und mit seinen Mannschaftskameraden aus dem WM-Team von 1978, die sich seit vielen Jahren um Deckarm bemühen, ihn besuchen und phasenweise betreuen. Die Auftritte indes fallen schwerer und werden seltener. Zuletzt wurde es stiller um den stets umjubelten Joachim Deckarm. Sein 70. Geburtstag jedoch wird ihm und seinen alltäglichen Herausforderungen gewiss neue Aufmerksamkeit bescheren.
Foto-Hinweis: Materialbeschaffung u.a. unter Mithilfe des Saarländischen Sportarchivs im Landesarchiv
[1]Siehe hierzu auch: Rolf Hegen: TEAMGEIST – Die zwei Leben des Joachim Deckarm; Herausgeber: Deutscher Handballbund, Handball-Bundesliga und Stiftung Deutsche Sporthilfe, 2009, Offenbach, ISBN 978-3-939537-06-9; dieses Buch ist durch wesentliche Unterstützung durch den Verfasser dieses Essays entstanden.
[2] A.a.O. S. 42
[3] Vgl. A.a.O. S. 42/44f
[4] A.a.O. S. 46
[5] Vgl. A.a.O. S. 52/53