Die ‚Glückskinder‘: Erfolg, anders definiert
Der Handball-Bundesligist MT Melsungen etabliert in seinem Einzugsgebiet südlich von Kassel ein Förderprogramm für geistig und/oder körperlich beeinträchtigte Kinder – und stellt fest: Abseits des Ligabetriebs gibt es dank dieses Projekts nur Gewinner.
Von Frank Schneller
[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]
Wären doch nur die Osterferien endlich vorbei.
Wie bitte? Wenn Kids sich die Rückkehr in den Schulalltag herbeiwünschen, muss es schon einen besonderen Grund dafür geben. Im Falle der 24 ‚Glückskinder‘ aus dem Nordhessischen steckt hinter der kindlichen Ungeduld das gleichnamige Förderprojekt der MT Melsungen. Und dieses Projekt ruht in der Ferienzeit.
Der Handball-Bundesligist hat es vor genau einem Jahr aufgelegt und kann rund um den ersten Geburtstag ein ausnahmslos positives Zwischenfazit ziehen. Als „großen Gewinn“ für alle Beteiligten erachtet Ivonne Hildebrand, die Leiterin des ‚Glückskinder‘-Projekts das wöchentliche Trainingsangebot an Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsverzögerungen sowie körperlichen und geistigen Einschränkungen. Nicht nur die Kids – alle zwischen fünf und 16 Jahre jung – gingen jeden Samstag nach den eineinhalb Stunden mit einem Strahlen nach Hause, sagt die Nachwuchskoordinatorin des Vereins. Auch die mittlerweile 15 ehrenamtlichen Übungsleiter sowie die Eltern und Geschwister, die nicht selten mittendrin statt nur dabei sind.
Nach Deutschland gebracht hatte das ursprünglich dänische Konzept die Spielgemeinschaft ‚Handball Bad Salzuflen‘. Das wiederum war auch für den TV Arnsberg, den Kooperationsverein der MT, beispielgebend – von dort brachte der heutige Vorstand für Strategie, Nachwuchs und regionale Kooperationen, Axel Renner, die Idee nach Nordhessen. Mit Leben erfüllt hat das Projekt dann Ivonne Hildebrand.
Die Zuwachsraten der letzten Monate und die aktuellen Anfragen belegen die positive Resonanz auf ihr Engagement und das des Trainerteams. „Wir wollen uns in der Region insgesamt nachhaltig engagieren“, erklärt Initiator Renner, „Nachwuchsarbeit hat heutzutage viele Facetten– wir haben es uns zum Anspruch gemacht, möglichst vielen davon gerecht zu werden. Das gehört genauso zur MT Melsungen wie möglichst viele Bundesligapunkte“.
Die ‚Glückskinder‘ samt ihrer Familien und deren Integration ins Vereinsleben würde die MT erst so richtig „rund machen“, meint auch Dr. Alexander Schröder, stellvertretender Aufsichtsrat und erster Vorsitzender der Turngemeinde Melsungen: „Es geht eben nicht nur um Leistungssport.
Das Training mit den beeinträchtigten Kids schließe eine Lücke im Angebot an die Menschen in der Region: „Wir können nun auch die glücklich machen, die wir vorher nicht glücklich machen konnten“, sagt Schröder. Die Basisnähe und Bodenhaftung tue gut – „wir wollen in die Mitte der Gesellschaft und die Menschen dort abholen, wo sie sind. Immer wieder samstags – abgesehen von den Ferien – macht die MT das nun seit April 2023. Von 10:00 bis 11:30 Uhr. Gut 90 Minuten … – ‚Basissport‘? Ja, so könne man das durchaus nennen, meint Schröder.
Die ‚Glückskinder‘ kommen aus dem Melsungener Einzugsgebiet, das bis Kassel und Rotenburg reicht. Trainiert wird in Guxhagen – das ist über die A7 für fast alle ganz gut erreichbar. Dennoch beträgt die Fahrtzeit für manche Eltern und ihre Kids beinahe eine Stunde. Das Training aber ist für sie von so großem Wert, dass die Fluktuation gegen null geht. Wer einmal kommt und mitmacht, bleibt dabei – sofern es die Gesundheit zulässt. Und natürlich spricht sich die Initiative auch herum. Die MT verzeichnet viele Neuanfragen. Weitere Standorte einzubeziehen wäre aus Sicht der Verantwortlichen keine schlechte Idee, auch ein Shuttle-Service ist denkbar, solche Pläne aber sind laut Ivonne Hildebrand noch im Anfangsstadium.
Zunächst wolle man sich auf das konzentrieren und bewahren, was gemeinsam aufgebaut wurde, das sei auch eine Frage des eigenen Verantwortungsbewusstseins. „Den Kindern und Jugendlichen bietet unser Projekt einen geschützten Raum, in dem sie sich frei und ohne Leistungsdruck entfalten können. Oftmals können sie in normalen Sportgruppen nicht mitmachen, weil die Übungsleiter diese zusätzliche Betreuung nicht leisten können oder wollen oder weil die Kinder dort nicht immer so akzeptiert werden wie sie sind“, erklärt Hildebrand. Und dieses hohe Gut wolle man pflegen.
In Guxhagen, berichtet Hildebrand, würden die Kids – die dort unabhängig vom Alter und vom Schweregrad der Behinderung zusammen sind – sich bisweilen Dinge trauen, die ihre Eltern nicht für möglich hielten. Um Handball ginge es dabei natürlich nur nachrangig, auch wenn handball-ähnliche Elemente und Spielformen Teil des meist dreiteiligen Parcours sind, den das Trainerteam jeden Samstag aufs Neue zusammenstellt.
Von den 15 Ehrenamtlichen sind immer mindestens fünf vor Ort. Man wechselt sich ab, damit die Frequenz der Termine für jede(n) Einzelne(n) überschaubar bleibt – das sei der große Vorteil an der beeindruckenden Anzahl freiwilliger Helferinnen und Helfer, erklärt Alexander Schröder. Indes: Sie kommen alle gerne, keiner möchte diese Aufgabe mehr missen. „Ich hatte mir schon gedacht, dass sich viele Familien melden, die ihre Kinder mitmachen lassen wollen – aber ich war vor allem überrascht, wie viele dort als Übungsleiter dabei sein wollten und sich entsprechend ausbilden ließen“, sagt Schröder, „das ist ein tolles Signal: Wir sitzen alle im selben Boot. Wir sind da für Euch, wenn Ihr uns braucht“.
Obendrein sei der große Zuspruch ein Indiz dafür, mit dem Angebot die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Wie auch Hildebrand und Renner betont er die soziale Bedeutung des Projekts: „Nachhaltigkeit ist eines der derzeit großen Themen. Nicht nur ökologisch und in Sachen Umwelt. Nachhaltiger Umweltschutz beispielsweise setzt eine sozial nachhaltige Gesellschaft voraus. Ohne die klappt das andere auch nicht.“ Darum sei es gut und wichtig, wenn Familien heute und in Zukunft verlässlich wüssten, an wen sie sich wenden können, wenn ihre Kinder an dem Programm teilhaben wollen – und wo sie auch mal Ängste abbauen können. Das wöchentlich eineinhalbstündige Miteinander nämlich hat nicht nur etliche kognitive Fortschritte bei vielen der Kids bewirkt, sondern entsprechend auch für mehr Selbstvertrauen gesorgt.
Mehr noch: Längst ist auch ein besonderes ‚Wir‘-Gefühl entstanden. Situativ nämlich kommen auch mal die Eltern oder Geschwister zum Einsatz – ganz zur Freude der ‚Glückskinder‘ und ihrer Coaches. Außerdem bietet die Zeit in der Halle den Angehörigen die Gelegenheit, sich auszutauschen, neue Freundschaften zu schließen und das Netzwerk rund das Projekt weiter zu festigen. Die Integration erfolgt wie beiläufig: Im Dezember letzten Jahres zum Beispiel war die Gemeinschaft der ‚Glückskinder‘ auch Teil des Weihnachtsspielfests der MT-Jugend – als ‚normaler‘ Bestandteil der Handballabteilung, nicht als Sondergruppe.
„Auch so“, sagt Alexander Schröder, „lässt sich Erfolg definieren“. Erfolg, das sei ein Auswärtssieg der Bundesligaprofis in Kiel oder das Erreichen des Pokalfinalwochenendes in Köln. Aber eben auch das Strahlen eines Glückskindes beim Verlassen der Sporthalle in Guxhagen nach 90 Minuten Spaß an der Bewegung, am Spiel.
Und die verflixten Osterferien in Hessen sind nun ja auch bald vorbei.