„Den Sport zu den Menschen bringen“
von Ruwen Möller ([RINGE]
Als sich die deutsche Olympionikin Lara Lessmann im BMX Freestyle-Finale die erste Rampe hinunterstürzte, klang aus den Boxen „Numb” von Linkin Park. Zu den fetten Beats gab es von ihr coole Tricks und Sprünge. Auf der Skateboard-Anlage direkt daneben ging es ebenfalls lässig zu. Die Basecaps waren seitlich aufgesetzt oder nach hinten gedreht. Die kabellosen Stöpsel saßen im Ohr und das dazugehörige Smartphone in der Hintertasche der tiefsitzenden Baggy-Hose war nicht zu übersehen.
Über Treppen, Hindernisse und Geländer tricksten sich die TeilnehmerInnen auf die olympische Bühne. Die Wellenreiter taten dies am Tsurigasaki Beach außerhalb des Stadtkerns und die 3-gegen-3-Basketballer im Aomi Urban Sports Park. Die Anlage hatte trotz aller Moderne etwas von Hinterhof. Es war eng, die Tribünen steil angeordnet und der DJ sorgte auch hier für die passende Musik. An all diesen Locations war die neue Coolness der Olympischen Spiele zu spüren. Für olympische Traditionalisten eher befremdlich – für die junge Zielgruppe völlig selbstverständlich. Und für das IOC (Internationale Olympische Komitee) offenkundig der Weg nach vorne.
Die Olympische Bewegung scheint in die Jahre gekommen zu sein. Ihr Begründer Pierre de Coubertin wollte einst, dass sich die Jugend der Welt zum sportlichen Wettkampf und zwischenmenschlichen Austausch trifft. Die Sportler sind, so sieht es die Natur der Dinge vor, weiterhin zumeist jung, aber in die Stadien und vor die Fernseher haben die Olympischen Spiele zuletzt immer weniger Jugendliche gelockt. Zu uncool, zu verstaubt, zu wenig grün und zu geldgierig, so die öffentliche Wahrnehmung. Das IOC versucht seit geraumer Zeit gegenzusteuern. Helfen sollen Skateboarden, Surfen, Klettern oder bald auch Parcours und Breakdance.
Das IOC wird damit zwar nicht zum Trendsetter, unternimmt aber den Versuch, neue Zielgruppen für seine Idee von Sport zu gewinnen. „Skateboard ist ein sehr wichtiger Teil für die Weiterentwicklung der Spiele. Unser Ziel ist es, den Sport zu den Menschen zu bringen, nicht nur die Menschen zum Sport“, erklärt IOC-Sportdirektor Kit McConnell. Auch die Aktiven teilen diese Perspektive. „Skateboard bei Olympia ist einfach etwas anderes, es ist im Fernsehen zu sehen, ein großartiges Event“, erklärt Yūto Horigome, der in seiner Heimatstadt das erste Gold der Geschichte gewonnen hat.
In Japan hat die Coronapandemie den Organisatoren auch in diesem Punkt einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zuschauer sind nicht zugelassen. Doch ist das wirklich ein Problem? Auf den ersten Blick vielleicht, genauer betrachtet indes: Nein. Vor allem BMX Freestyle, Skateboard oder auch Wellenreiten sind extrem fernsehtaugliche Sportarten und lassen sich an den Bildschirmen einem Millionenpublikum hervorragend näher bringen. Wenn beim BMX Olympiasiegerin Charlotte Worthington einen waghalsigen Rückwärtssalto macht und die Kamera diesen quasi mitfährt, hätte das in der Arena niemand so mitansehen können.
Und dann sind da ja noch die sozialen Medien, die in den Subkulturen aus denen diese Trendsports meist entstehen, die Multiplikatoren schlechthin. Laut den Organisatoren in Tokio stoßen die Olympischen Spiele bei Facebook und Co. auf ein gewaltiges Interesse. Es seien die digital am meisten genutzten Spiele, erklärte der zuständige IOC-Marketingchef Christopher Carroll vor einigen Tagen. Auf denen vom IOC bespielten sozialen Medien wurde nach der ersten Woche ein Datenverkehr registriert, der seit dem Beginn des Spektakels bereits doppelt so hoch sei wie bei den vorherigen Sommerspielen in Rio 2016.
Beflügelt wird diese Interesse eben durch moderne Sportarten wie BMX Freestyle, Skateboard oder Sportklettern, die gerade bei der Jugend auf großes Interesse stoßen. Auf der Video-App Tiktok wurden die vom IOC hochgeladenen Inhalte rund um die Athleten 1,4 Milliarden Mal aufgerufen. Die Zugriffsraten bei Instagram sowie der Webseite und offiziellen Olympia-App lägen um ein Vielfaches über dem Durchschnitt, hieß es. Hinzu kommt die Nutzung der digitalen Angebote der Inhaber der Übertragungsrechte. Besonders groß sei das Interesse an den Spielen in Ländern wie den USA, Indien, Australien, Brasilien und Japan.
Doch keine neuen Erfolge ohne Skepsis oder gar Kritik. Denn gerade Sportarten, die nicht aus dem traditionellen Vereins- und Wettkampfsport stammen, haben sich stets durch ihre Ungebundenheit und das wenig Zwanghafte ausgezeichnet. Wenn diese in das olympische Korsett gepresst werden, gibt es vor allem Gegner aus den eigenen Reihen. So war es einst beim Snowboard, als es erst den legendären X-Games-Teilnehmer Shaun White und seine drei Olympiasiege benötigte, damit es salonfähig wurde, auf beiden Seiten zu starten.
„Skateboarden ist nicht nur Olympia oder Wettbewerb. Ich skate auch weiter auf der Straße“, sagte Horigme. Und Lara Lessmann sieht es ganz ähnlich, meinte bereits vor den Spielen: „Natürlich ist meine Sportart eher streetmäßig, aber ich bin damit aufgewachsen, dass ich immer trainiert habe und zu Wettkämpfen gefahren bin. Ich wollte immer besser werden und deswegen ändert sich für mich nichts. Es war kein Schock, dass wir jetzt olympisch sind, sondern Motivation dabei zu sein. Zudem sind weiterhin alle Türen zu allen anderen Wettkämpfen offen.“
Der deutsche Surfer Leon Glatzer sagte – natürlich in einem Instagram-Video: „Das war eine unglaubliche Erfahrung, eine einmalige Erfahrung. Es fühlt sich immer noch an wie ein Traum. Ich hatte eine großartige Zeit.“ In Richtung gesamtes Team Deutschland fügte er noch hinzu: „Ihr seid nicht nur ein Team, ihr seid nicht nur ein Label, ihr seid Familie, ihr seid das Blut und das Herz zu dem ich mich als Athlet zugehörig fühle!! Danke, dass es euch gibt.“ Tobias Wicke, Bundestrainer BMX Freestyle findet, dass seine Sportart „auf jeden Fall“ zu den Olympischen Spielen gehört. Diese müssen seiner meiner Meinung nach „jünger werden und BMX Freestyle, Skaten und Surfen ist auf jeden Fall jünger“.
Fotos: Beitragsfoto: picture alliance/dpa | Marijan Murat | Text: picture alliance / SVEN SIMON | Sven Simon
Ruwen Möller (40) ist Ressortleiter der Sportredaktion bei Flensborg Avis, Tageszeitung der dänischen Minderheit in Deutschland. Gebürtig aus Niedersachsen, ist er längst im ganz hohen Norden zu Hause und hat sich hier vor allem in Sachen Handball spezialisiert. In Tokio erlebt er seine zweiten Olympischen Sommerspiele.