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„Ist das die Wahrheit?“

von Frank Schneller [ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT | HISTORIE]

 

Olympisches Feuer: Herr Ludwig, Sie sind seit 1990 beim SPIEGEL. Zunächst im Sport, dann viele Jahre im Deutschland-Ressort als Reporter und Rechercheur und seit 2016 als Ressortleiter zurück im Sport. 32 von 75 Jahren SPIEGEL haben Sie aktiv mitgestaltet, an vielen Titelgeschichten mitgewirkt. Welcher Titel aus dem Sport ist Ihnen persönlich am nachhaltigsten in Erinnerung.

Udo Ludwig: Jener zum – vorläufigen – Ende unserer Doping-Enthüllungen rund um das Team Telekom im Radsport. Das war emotional mit weitem Abstand der bedeutendste. Nach den Veröffentlichungen in den Jahren zuvor haben mein Kollege Matthias Geyer und ich viel öffentliche Prügel bekommen. Mit dem Erscheinen dieses Titels wurde das Thema für uns zu einem guten Ende geführt. Das vergisst man nicht. Das steht über allem anderen.

 

Olympisches Feuer: Sie wurden in der Folge mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Die Zeit zwischen 1999 bis 2007 aber mutet an wie ein Krimi, in der Ihnen und all den anderen Beteiligten des Magazins Hauptrollen zufielen. Brauchte man damals besondere Nehmerqualitäten? Gute Nerven?

Udo Ludwig: Natürlich. Der Druck von außen war immens, mit nichts zu vergleichen, was ich bis dahin erlebt hatte. Das Team Telekom war seinerzeit das große Marketing-Instrument des Unternehmens, extrem wichtig. Die Anfeindungen, die wir damals erfahren haben, waren in all den Jahren einzigartig.  Wir mussten einen Anzeigen-Boykott von mehreren Millionen hinnehmen, wir wurden persönlich verunglimpft vom damaligen Kommunikationsdirektor des Teams – und wir wurden verklagt. Da gerät man schon massiv in die Ecke. Aber man muss auch wissen, dass man im Zuge solcher Recherchen und Veröffentlichungen viel aushalten muss. Und das mussten wir.

 

Olympisches Feuer: Weitere Highlights aus Ihrer Sicht? Es gab ja zahlreiche große Enthüllungsgeschichten in all den Jahrzehnten – über die „Herren der Ringe“, den „verkauften Sport“, „Football Leaks“, …

Udo Ludwig: Sie zählen da gerade schon viele wichtige Themen auf, einige davon habe ich nicht als Autor, sondern als Ressortleiter begleitet. Wenn ich mich auf meine gesamte Zeit beziehen soll, gehören in die Auflistung auf alle Fälle auch die Geschichten über den DFB …

 

Olympisches Feuer: … die WM-Vergabe 2006, das „Sommermärchen“ …

Udo Ludwig: … und darüber hinaus. Es gab ja nicht nur die beiden großen Geschichten zu diesem Thema. Wir haben als SPIEGEL im Nachgang weiterhin sehr viel Ressourcen und Energie darauf verwandt, einen Verband, von dem wir glauben, dass er nicht richtig aufgestellt war, so zu beschreiben, wie wir es müssen. Letzten Endes sind drei DFB-Präsidenten – Wolfgang Niersbach, Reinhard Grindel und Fritz Keller ­– auch an unserer Berichterstattung gescheitert.

 

 

Olympisches Feuer: Und aus der jüngeren Vergangenheit?

Udo Ludwig: In letzter Zeit sind wir – weil mir das auch wirklich wichtig war und ist – vermehrt die Themen Sexueller Missbrauch und körperlicher Misshandlung im Sport angegangen. Da war die Kollegin Antje Windmann sehr stark. Das war ein völlig vernachlässigtes Feld. Ob im Boxen, Turnen, Schwimmen … – da kam so viel zum Vorschein, das hätte ich mir vor einigen Jahren gar nicht vorstellen können, das hat mich überrascht. Wissen Sie: Korruption im Sport – das erwartet man irgendwann angesichts der Summen, die dort inzwischen bewegt werden. Da wäre es eher verwunderlich, wenn es Korruption nicht gäbe. Steuerhinterziehungen usw. – alles nicht so überraschend. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass sexualisierte Gewalt und Missbrauch im Sport so verbreitet waren. Und übrigens auch der Umstand, dass uns das Thema Doping bis heute nicht losgelassen hat. Ich dachte eigentlich mal vor ein paar Jahren, dass sich das Thema erledigt hätte. Das war eine Fehleinschätzung, die ich revidieren musste. Denn mir wurde irgendwann doch klar, dass sich das nie ändern wird. Schon deshalb, weil es hochattraktiv ist, zu dopen, allein aus wirtschaftlichen Gründen.

 

Olympisches Feuer: Haben Sie viele Texte in der Schublade, die bei entsprechendem Aufhänger – im zeitlichen Umfeld eines Events beispielsweise – herausgeholt werden?

Udo Ludwig: Dies war früher ein Vorwurf an uns. Dass wir gezielt etwas zurückhalten, um für Aufruhr zu sorgen. Als wir zum Beispiel noch viel Leichtathletik-Stücke gemacht haben, oft zu Europa- oder Weltmeisterschaften. Das hatte aber nicht den Hintergrund, dass wir gezielt was zurückgehalten haben. Vielmehr versucht man eben zu einem Großereignis hinzurecherchieren, weil wir wissen, dass sich unsere Leser dann besonders für ein Themengebiet interessieren und dann kommt dabei manchmal auf Dinge, die halt zum betreffenden Zeitpunkt erst reif werden. Dahinter steckt kein Mastermind-Plan, das ist oftmals viel simpler im Redaktionsablauf als man meint. Zumal: Die Gefahr, dass andere die Geschichte auch aufspüren, muss man ja auch einkalkulieren. Wir sind der Wahrheit verpflichtet – was wir haben, muss dann raus, ohne darauf zu spekulieren, womit wir die größte Wirkung erzielen.

 

Olympisches Feuer: Stichwort Wahrheit: Zu 75 Jahren SPIEGEL gehört auch der Fall Claas Relotius. Gab es vergleichbare Fälle im Sportressort?   

Udo Ludwig: Nein. Natürlich aber hat dieser Fall den ganzen Laden gehörig durchgeschüttelt. Wir haben uns alle gefragt, wo wir Fehler gemacht haben, haben versucht, Dinge zu analysieren, umzustellen. Für uns war das der Fall Relotius besonders bitter, weil wir viele Qualitätssicherungsmaßnahmen im Haus haben. In der Dokumentation, in der Schlussredaktion, in den Sekretariaten. In der Chefredaktion. Da hatten wir schon den Anspruch: „uns geht nix durch“. Und wenn man dann trotzdem einem Betrüger auf den Leim geht, tut das schon sehr weh.

 

Olympisches Feuer: Angesichts der Komplexität Ihrer Sport-Themen: Wie wichtig ist das Zusammenwirken der Ressorts? Holen Sie sich regelmäßig die Expertise aus anderen Sparten?

Udo Ludwig: Das halte ich für eine der wesentlichen Stärken des SPIEGELs: Die Zusammenarbeit der Ressorts untereinander – selbst wenn es draußen manchmal anders erscheinen mag – ist schon stark. Wir arbeiten viel mit dem Deutschland-Ressort, auch mit dem Wirtschafts- oder Gesellschaftsressort zusammen. Diese Interaktion macht den Sportteil stärker. Das ist übrigens nicht nur Wille, sondern auch Zwang – ohne das Knowhow anderer ginge es oftmals gar nicht.

 

Udo Ludwig

 

Olympisches Feuer: Für ein wöchentliches Nachrichtenmagazin zu arbeiten, ist speziell. Die Arbeitsweise ist eine besondere. Dazu der Selbstanspruch und das Selbstverständnis. Da ist man schnell in der Rolle des Sonderlings. Das muss man mögen …

Udo Ludwig: Wenn man so arbeitet wie wir, führt das natürlich zur Vereinzelung. Die Verbrüderung mit den Kolleginnen und Kollegen habe ich bis auf wenige Ausnahmen eigentlich nie mitgemacht, weil wir eben auch ganz anders arbeiten. Das mag einem als arrogant ausgelegt werden, ist es aber gar nicht. Unsere Arbeit fängt eben in der Regel erst dann an, wenn alle anderen ihre Zitate schon im Kasten haben. Wir haben den Nachteil, dass wir nur einmal in der Woche erscheinen, das erfordert eine andere Arbeitsweise als die eines tagesaktuell arbeitenden Kollegen oder Kollegin. Ich erlebe aber, dass sich eine Professionalisierung vollzieht. Diese Verbrüderungen im Sport, besonders auch mit den Sportlern, gab es früher deutlich häufiger als heutzutage. Dass man sich quasi als eine Einheit gesehen hat. Bei uns war das schon immer so, dass wir die Distanz gewahrt haben. Heute mache ich das vermehrt auch bei anderen aus.

 

Olympisches Feuer: Tatsächlich? „Wir sitzen doch alle in einem Boot“ – nimmt diese Haltung aus Ihrer Sicht ab?

Udo Ludwig: Ich finde schon. Wenn man sich den wichtigsten Berichtsgegenstand anschaut, den Fußball, hat das allein schon damit zu tun, dass die Zugänge wesentlich schwieriger geworden sind. Es ist eben nicht mehr so, dass wir Sportjournalisten Berichterstatter und Fan sind. Und: Die Vereine haben selbst eine gewisse Mauer aufgebaut. Die brauchen uns nicht mehr so sehr wie noch vor einigen Jahren. Das befördert den von mir wahrgenommenen Trend …

 

Olympisches Feuer: Abschirmung und vorproduzierte Inhalte machen die Arbeitsbedingungen inzwischen viel schwieriger, vor allem im Tagesgeschäft. Der SPIEGEL hat aufgrund seiner Herangehensweise weniger Probleme, oder?

Udo Ludwig: Doch, doch. Wir merken schon auch, dass die Spieler und die Vereine die Medien überhaupt nicht mehr brauchen, um ihre Meinung in die Öffentlichkeit zu tragen. Die machen das über Social Media-Kanäle. Auch wir vom SPIEGEL sind im Zuge dessen nicht mehr der Ansprechpartner, der wir vielleicht mal vor ein paar Jahren noch waren. Wenn ein Trainer oder Spieler sich vor 20 Jahren mitteilen wollte, hat er sich das Medium ausgesucht, das seiner Meinung nach die größte Relevanz hatte – und das war eben oft auch der SPIEGEL. Heute sucht und bedient er sich seiner eigenen Kanäle. Das ist schon eine Entwicklung, die auch unsere Arbeit sehr verkompliziert hat.

 

Olympisches Feuer: Wie finden Sie denn die Zunahme selbstproduzierter Inhalte?

Udo Ludwig: Wir werden das Rad nicht mehr zurückdrehen. Wir müssen einfach damit umgehen. Wir müssen das alles einordnen, kritisch hinterfragen. So hat sich unser Job eben verändert: Wir können gar nicht mehr so oft die Nachricht als solche verbreiten, die ist sowieso schon auf dem Markt. Wir müssen vielmehr schauen: ist das die Wahrheit? Welche Hintergründe werden nicht ausgeleuchtet? Das ist unsere Aufgabe. Noch viel mehr als früher.

 

Olympisches Feuer: Wenn man so viele Missstände im Sport aufdeckt und nach immer neuen sucht, ist man da nicht irgendwann desillusioniert, was den Sport angeht? Ist es nicht anstrengend und manchmal sogar undankbar, Fans den ungetrübten Blick zu nehmen?

Udo Ludwig: Naja, man muss – und das ist eben manchmal wirklich auch nicht ganz einfach – seine professionelle Haltung bewahren. Natürlich tut es weh, wenn man Menschen über Hintergründe aufklären, und Lesern, für die Sport in erster Linie Unterhaltung ist, sagen muss: „Sei nicht naiv.“ Dafür ist man aber halt beim SPIEGEL und dem Haus samt seiner Philosophie verpflichtet.

 

Frank Schneller (52), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.

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