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„Helfen. Wo und wie auch immer. Solange wie möglich.“

Von Volker Schneller [ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT | MENSCHEN]

Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat eine bemerkenswerte Welle der Solidarität und – viel wichtiger noch – Hilfebereitschaft in der deutschen Gesellschaft eingesetzt. Auch der Sport beweist derzeit, dass er nicht nur symbolische, sondern handfeste Kraft entwickeln und sogar Leben retten kann. Sei es organisiert, durch die Dachverbände. Oder durch viele helfende Hände im privaten, ehrenamtlichen Bereich. Die Hilfsaktionen sind vielschichtig.

Einer der unermüdlichsten Initiatoren ist der in Deutschland lebende ukrainische Ex-Handballer Sascha Gladun. Dem ehemaligem Bundesligaspieler kommen dabei auch jene Charaktereigenschaften zugute, für die ihn Trainer und Fans seiner früheren Vereine bis heute so sehr schätzen: Einsatzwille, Verantwortungsbewusstsein, Ausdauer und Teamgeist.

Als ihn der Anruf des Autors erreicht, ist er gerade nach Hause gekommen. „Diese Bilder“, erzählt er mit bewegter Stimme, „prägen sich ein. Die werden bleiben“. Auch nach mehr als sechs Wochen Krieg in seiner Heimat, der Ukraine, klingt der ehemalige Bundesligaprofi (u.a. Solingen, Erlangen) zwar sortiert und ruhig – aber noch immer geschockt. Müde? Wäre ihm nicht zu verdenken, aber Gladun lässt sich Erschöpfung zumindest nicht anmerken.

 

Mit dem Kleinbus zur ukrainischen Grenze

Gerade erst ist er von einer weiteren Fahrt zur polnisch-ukrainischen Grenze zurückgekehrt. Was er dort zum wiederholten Male mit eigenen Augen sah, sei kaum zu ertragen. Man hört es in seiner Stimme. Dennoch macht er sich immer wieder auf den Weg. Liefert mit einem Kleinbus dringend benötigtes Material, lebenswichtige Güter und Verpflegung – und holt Menschen aus höchster Not. Auf der jüngsten Tour zwei schwerverletzte Landsleute, darunter ein kleines Kind. Viele Kriegsopfer, auch Verwandte, hat er persönlich nach München und Umgebung gebracht. In Krankenhäuser. In Sicherheit. Seine Mutter ist bei ihm, seine Schwester. Weil im eigenen Zuhause nicht mehr Platz war, blieb der Vater vorerst in der Ukraine – allerdings nur 20 km von der ungarischen Grenze entfernt. Noch ist er dort sicher, betont Sascha Gladun.

Seit Wochen befindet sich der 49-Jährige rund um die Uhr im Ausnahmezustand, im Krisen- und Hilfsmodus. Gladun, heute Generalsekretär des ukrainischen Handballverbandes, blieb nach dem Ende seiner aktiven Karriere in Deutschland, fand in Oberammergau ein neues Zuhause und arbeitet – eigentlich – als Sportlehrer an einer Schule in Herrsching. Doch seit Ausbruch des schrecklichen, von Russland angezettelten und immer brutaler geführten Krieges in der Ukraine, hilft Gladun, „wo immer möglich“. Als Funktionär. Als Organisator. Netzwerker. Übersetzer. Krankentransporter. Fluchthelfer.

Weil der Sport-Informations-Dienst (SID) über seinen Einsatz vor rund drei Wochen berichtete, steht der einstige Rückraumspieler im Gegensatz zu vielen anderen Ehrenamtlichen im Sport durchaus in der Öffentlichkeit.

Der SID-Artikel rüttelte wach, richtete den Fokus zudem auch auf das Schicksal der ukrainischen Nationalmannschaft, die samt Familien kurzerhand vom TV Großwallstadt aufgenommen wurde, für den einst der heutige Nationalcoach Vyacheslav ‚Slava‘ Lochman als Profi aufgelaufen war. Die anderen zogen nach: Spiegel, Süddeutsche Zeitung, FAZ, Kicker – um nur einige zu nennen – schickten Reporter*innen nach Großwallstadt, die Medien rund um München begleiteten ein vom Bayrischen Handballverband und Gladun initiiertes Benefizspiel, die in Hessen berichteten über das Gastspiel der ukrainischen Mannschaft bei der HSG Wetzlar.

Hilfsaktionen, Spendenaufrufe, Interviews – all das lief und läuft ebenfalls über Sascha Gladun. Sein Telefon klingelt rund um die Uhr. Das seiner Frau auch. Alle haben Fragen.

 

Kümmern sich um die Geschicke des ukrainischen Handballs: Nationalcoach Slava Lochman (l.) und Verbands-Vize Sascha Gladun, gleichzeitig treibende Kraft und Koordinator der Ukraine-Hilfe aus Deutschland heraus

 

Auch als Funktionär und Medienmann gefragt

Nebenher kümmert er sich als Generalsekretär um die administrativen Aufgaben seines Verbandes. Nicht nur Kraft seines Amtes. Schlicht, weil ihm ohnehin nichts anderes übrigbleibt: „Viele Menschen, die mir dabei helfen wollen, sprechen unsere Sprache nicht. Viele, die ukrainisch können, kennen sich im Handball und mit den Statuten nicht aus.“ Als Lehrer ist er temporär in Teilzeit übergegangen. Nur so ist das alles überhaupt zu bewältigen.

Selten stand der ehemalige Nationalspieler derart in der Öffentlichkeit. Wer jedoch nur einige Augenblicke mit ihm spricht, versteht sofort: Weder braucht noch genießt er sie. Vielmehr hat er erkannt, dass er die mediale Präsenz aktuell hilfebringend einsetzen kann. Also schildern abwechselnd er oder Nationalcoach Lochman den Medien, warum und unter welch teils dramatischen Umständen die ukrainischen Nationalspieler per Ausnahmeregelung nach Großwallstadt kommen durften, wo sie zunächst ein Trainingslager bezogen (siehe Foto ganz oben: Die Ukrainer beim Freilufttraining in Mainfranken). Und dass sie nun darauf warten würden, eine Wildcard für die nächste WM beantragen zu können – „wenn die Zeit dafür reif ist“, betont Gladun. Denn: Die ukrainischen Qualifikationsspiele für das 2023 stattfindende Turnier in Schweden und Polen gegen Finnland musste die Ukraine kriegsbedingt absagen.

 

Wer Sascha Gladun in Form einer Spende bei seiner Ukraine-Hilfe unterstützen will, kann dies hier tun:

M-K-T Alltagshelfer e.V.

Volksbank Hamm
DE 43 4416 0014 6606 6272 00

Spende Ukraine

 

Von Großwallstadt in eine neue Zukunft?

Die Spieler haben, betonen Gladun und Lochman, die Erlaubnis des ukrainischen Ministeriums, ja sogar den Auftrag, sportlich für ihr Land einzustehen – als Botschafter. Viele von ihnen waren direkt und fluchtartig aus Russland gekommen, wo sie als Profis spielten. Keiner von ihnen wird dorthin zurückkehren. Mehrere Spieler stehen mittlerweile vor der Aufnahme durch Vereine aus Polen, Spanien, Rumänien. Die Verträge sind in Arbeit. Ihnen und ihren Familien winkt womöglich eine Zukunft. Ein neues Leben. Gladun hat auch hier das Mandat, mitzuhelfen. Auch zu deutschen Klubs besteht Kontakt.

An die Front müssen die jungen Handballer trotz der in ihrer Heimat vorherrschenden Wehrpflicht-Statuten für Männer ab 18 bis 60 Jahren absehbar nicht. Aus dem zweiwöchigen Sonderstatus ist eine unbefristete Regelung geworden, erklärt Gladun. Trainer Lochman beschreibt es so: „Wir kämpfen mit dem Ball in der Hand, nicht mit der Waffe.“

Jene Spieler ohne einen neuen Vertrag werden nach ihrer Zeit in Großwallstadt, wo das ukrainische Team samt Familien eine – bis weit in den privaten Bereich hinein – berührende Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfuhr, nun im nächsten Schritt in Rostock aufgenommen. Auch dort ist – wie in Großwallstadt – ein Zweiligist beheimatet. Unterdessen hält sich das Frauen-Nationalteam aktuell als ‚Dauergast‘ im tschechischen Hodonin bei Brünn auf, um sich dort auf die EM-Qualifikationsspiele gegen Kroatien in Linz und Frankreich in Le Havre vorzubereiten.

Die Handballgemeinschaft ist ein ganzes Stück zusammengerückt dieser Tage. Das ist auch deshalb so wichtig, weil die ukrainischen Spielerinnen und Spieler trotz der gegenwärtigen Sicherheit oftmals seelischen und moralischen Beistand brauchen angesichts ihrer traumatischen Situation – Gespräche, Empathie, Fürsorge.

 

Eine gesellschaftliche Chance in der Katastrophe

Aber – und diese Frage dürfte sich absehbar grundsätzlich stellen – hält diese Hilfsbereitschaft an? Wie lange ist sie überhaupt durchzuhalten?

Eine pauschale Antwort darauf, wie es weitergeht, hat Gladun nicht. Er kann Hoffnungen formulieren, natürlich. Auf ein baldiges Kriegsende, auf ein sofortiges Ende der Massaker. Aber er weiß, dass sich jeder, der helfen will und kann – auch er selbst – darüber klar sein muss, dass eine kurzfristige Lösung nicht zu erwarten ist. Worauf er indes baut, sagte er unlängst im Lehrerzimmer seiner Schule zu einer Kollegin: „Vielleicht birgt diese fürchterliche Katastrophe eine Chance in sich – nämlich die der Rückbesinnung von uns allen auf das, was wirklich wichtig ist im Leben: Frieden. Sicherheit, Humanität. Respekt, Nahrung, Bildung. Wenn wir das alle begreifen, wäre das eine wichtige gesellschaftliche Entwicklung.“ Eine – schöne – Vision.

Aktuell seien natürlich auch Sanktionen wichtig, diese aber eher mittel- und langfristig wirksam. Gladun sagt außerdem: „Russland muss zwar den Druck der ganzen Welt spüren, man darf aber nicht vergessen, dass die Menschen auch auf russischer Seite leiden. Auch viele ihrer Soldaten liegen in Schützengräben, obwohl sie es nicht wollen.”

Boykotts gegen russische Sportlerinnen und Sportler? Da schlagen zwei Herzen in seiner Brust: „Ich bedauere gerade als Sportler sehr, was die jungen Aktiven in Russland akzeptieren müssen, obwohl sie ja oft überhaupt nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Auf der anderen Seite aber muss sich in Russland endlich ein innerer Widerstand gegen diese Diktatur bilden, müssen Zeichen gesetzt werden, und wenn dies nicht von innen passiert, dann muss man auch diese Sanktionen von außen akzeptieren.“

 

Dankbar, überwältigt, berührt.

Sport und Kultur bewirken oft mehr als Politik. Nun aber wird der diplomatischen, vereinenden Kraft des Sports ein brachialer Krieg übergestülpt. Also müssen sich die Werte des Sports anderweitig ihren Weg bahnen. Es geht zunächst schlicht darum, Menschenleben zu retten. Und so bleibt Gladun im „Hier-und-Jetzt“. Er sei fest entschlossen, zu helfen so lange er kann.

Wichtig ist ihm unterdessen, seine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Gegenüber seinem direkten Umfeld, das ihn wo immer möglich unterstützt – vor allem aber auch adressiert an die vielen Helferinnen und Helfer in seiner Wahlheimat Deutschland: „Es war jedes Mal unglaublich, an der Grenze zu erleben, wie viele Fahrzeuge mit deutschem Kennzeichen ebenso wie ich mit Hilfsgütern vorfuhren, um dann mit Flüchtlingen wieder die Rückfahrt anzutreten. Ich bin von Herzen jenen Deutschen, jenen Sportlerinnen und Sportlern, Vereinen und Verbänden dankbar, die in dieser furchtbaren Situation den Menschen aus der Ukraine so viel Zuwendung und Menschlichkeit entgegenbringen.“

Erst vor gut zwei Wochen habe er drei junge ukrainische Mädchen in einem Handballklub in Pullach unterbringen dürfen, „es war einfach überwältigend, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich ihrer angenommen hat”. Was ihn zudem berührt: „Viele Menschen, die derzeit helfen, haben selbst nicht viel.“ Kurze Zeit nach dem Gespräch schickt er per WhatsApp einen Artikel über und Fotos von Kai Kipka und Frank Jäschke aus Hamm, die mehrmals auf eigene Gefahr ins Kriegsgebiet reisten, um selbst organisierte Medikamente und Operationsmaterial zu liefern. Helden in seinen Augen. Über die müsse man berichten.                                                                                 (Mitarbeit: Frank Schneller)

 

 

Volker Schneller (81), Feldhandball-Weltmeister 1966 und mehrmaliger Deutscher Meister als Spieler und Trainer, war auch beruflich immer dem Sport verschrieben: Bei Adidas, Bayer Leverkusen und nach Eintritt ins Rentenalter als Lokalreporter in seiner Wahlheimat Herzogenaurach. Sascha Gladun trainierte er in gemeinsamen Erlanger Zeiten um die Jahrtausendwende in der 2. Bundesliga. „Er war viel mehr als nur unser Torjäger, er war schon damals eine echte Persönlichkeit“, erinnert sich unser Gastautor. Tief beeindruckt von dem, was sein einstiger Spieler im Angesicht des Krieges alles bewegt, knüpfte Schneller Kontakt zu Gladun und griff für unsere Website anschließend spontan in die Tasten.

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