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„Denke jede Minute an diesen Krieg und dass er aufhören muss“

Der ukrainische UEFA-Referee Denys Shurman flüchtete mit seiner Frau und seinem Sohn vor dem Krieg und landete über Umwege in Hamburg. Dort beginnt für die Familie nun ein neuer Lebensabschnitt. Er pfeift zunächst in der Regionalliga, auch wenn viele Sorgen bleiben. Eine Geschichte über Leid, Hoffnung – und über die Kraft des Sports.

Von Andreas Hardt

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Endlich! Am 30. Juli startet die Fußball-Regionalliga Nord in ihre neue Saison. Wurde Zeit. Die Pause war lang genug. Das geht doch vielen Fans so und den Spielern. Ganz besonders freut sich jedoch Denys Shurman auf diesen Tag. Da kann er wieder pfeifen, dafür trainiert der Schiedsrichter schließlich. Hobby, Beruf, wichtige Abwechslung – es fließt alles zusammen, ist ein Teil von allem, ein Teil des Lebens, dass sich in den vergangenen fünf Monaten dramatisch geändert hat.

Dies ist eine Geschichte von Flucht und Leid und Neuanfang. Von Orientierung in einer fremden Welt. Aber auch von Freundschaft und der Macht des Sports zusammenzustehen und zu helfen.

„Ich denke jeden Tag, jede Stunde, jede Minute  an diesen Krieg und dass er aufhören muss“, erzählt der 35 Jahre alte Denys Shurman in fließendem Englisch, „das ist das Allerwichtigste.“ Er kann deshalb auch in seiner neuen – vorübergehenden? – Heimat Hamburg kaum den Blick vom Handy lassen. Was gibt es Neues? Welche Verbrechen haben die Russen wieder begangen? Geht es der Familie gut? Mutter und Bruder sind schließlich noch in der Heimat.

 

Große Stütze: Kollege Patrick Ittrich

Seit dem 10. März ist Shurman mit seiner Frau Switlana (34) und dem fünfjährigen Sohn Nazar in Hamburg. Er ist ein Spitzenschiedsrichter der Ukraine, pfeift auch internationale Spiele für die Uefa. Er ist aber auch ein Kriegsflüchtling, aber er hat vergleichsweise Glück. Weil er durch die Schiedsrichterei Verbindungen und Kontakte hatte, und weil er Menschen kennt und kennengelernt hat, die ihm helfen. Wie Patrick Ittrich.

„Mir geht das Leid, dass dies herzensgute Familie erfahren hat, sehr nahe“, sagt Hamburgs bekannter Bundesliga-Schiedsrichter, der so etwas wie ein „Mentor“ für Shurman und dessen Familie geworden ist, „nachdem ich sie und ihre Situation kennengelernt habe, musste ich erst einmal eine Viertelstunde laufen gehen, um wieder runterzukommen. Das hat mich wirklich berührt“.

Nachdem der russische Angriff auf sein Heimatland am 24. Februar begonnen hatte, entschloss sich die Familie Shurman relativ schnell, die Gegend um Kiew zu verlassen. Sohn Nazar ist behindert, er braucht regelmäßig Medikamente und Betreuung, das war nicht mehr gewährleistet. Sie sind dann im eigenen Auto zu Verwandten, 300 Kilometer von Kiew entfernt in der Westukraine. Von da weiter ins polnische Posen. Aber auch da war es unmöglich, die nötige Medizin zu erhalten. Über Freunde und deren Verwandte gab es schließlich die Möglichkeit, ein kleines Haus in Hamburg zu beziehen. Ein Glück im Unglück.

Dennoch: „Wir hatten praktisch nichts.  Kaum Kleidung, Schuhe, wir mussten ja alles zurücklassen.“

In der Regionalliga Nord hat der ukrainische Top-Schiedsrichter zunächst eine neue sportliche Heimat gefunden. (Foto und Titelfoto: Picture Alliance)

 

Shurman weiß um seinen Sonderstatus

Da kam dann schon Patrick Ittrich ins Spiel. „Er hat mich angerufen, kam dann mit seiner Tochter vorbei und hat gefragt, was wir benötigen“, erzählt Shurman. Ittrich setzte seine Hebel in Bewegung, aktivierte seine Kontakte um so viele Dinge zu organisieren wie möglich – „vor allem hat er mir bei der Bürokratie geholfen, das war und ist sehr wichtig.“ Der Gang durch das deutsche Bürokratie- und Behördendickicht, ist ohne Unterstützung kaum zu bewältigen. Sogar ein deutscher Staatsdiener wie der Poleibeamte Ittrich (43) steht da regelmäßig fassungslos davor.

Shurman ist sich sehr wohl bewusst, dass er als Spitzenschiedsrichter Vorteile hat gegenüber „normalen“ Geflüchteten. Der ukrainische Verband hatte Deutschlands Schiedsrichterchef Lutz-Michael Fröhlich mitgeteilt, dass Shurman nach Hamburg kommt, Fröhlich bat Ittrich um Unterstützung. Telefonnummern wurden getauscht. „Ich kannte Patrick nicht, habe im Internet nachgeschaut, wer das ist, erzählt Shurman: „Ein Polizist und Bundesligaschiedsrichter also. Wir haben uns dann schnell sehr gut verstanden.“

Die deutschen Unparteiischen haben ihren ukrainischen Kollegen so schnell und gut wie möglich integriert. Shurman hat bereits zwei Regionalligaspiele gepfiffen, eine Oberligapartie. Er nahm am Lehrgang der deutschen Schiedsrichter in Potsdam teil, wurde von der Uefa für ein Spiel der U21-EM-Qualifikation in Lichtenstein angesetzt. Ittrich war der Vierte Offizielle. „Alle sind sehr respektvoll, sehr nett, jeder fragt, wie es geht“, ist Shurmans erste Erfahrung mit deutschen Spielern, „es hat Spaß gemacht“.

Während der Spielbetrieb ruhte, hat  Shurman trainiert, versucht, sich körperlich fit zu halten. An Arbeit ist nicht zu denken. Zuhause hatte er seit sieben Jahren mit seinem Bruder einen Pizza-Lieferdienst betrieben. Das Geschäft lief gut. Vorbei.

 

Ungewisse Zukunft, aber neue Freunde

Was die Zukunft bringt ist unklar, eine langfristige Planung ist unmöglich. Die Schiedsrichterei bietet immerhin Aussicht auf ein wenig Ablenkung. „Ich darf in Hamburg Regionalliga pfeifen, das ist gut“, freut er sich. Eventuell startet im August auch wieder die erste Liga in der Ukraine – dann würde er kurzfristig anreisen. Seine Familie aber, die bleibt zunächst hier.

Ehefrau Switlana ist Sozial-Pädagogin. Sie unterstützt andere geflüchtete Menschen aus der Ukraine so gut es geht. Mit einer Facebook-Gruppe „Ukrainer in Hamburg“ sind viele miteinander verbunden, tauschen sich aus, helfen sich. „Rund 10.000“, schätzt Shurman, gehören dieser Gruppe an – eine gewaltige Zahl.

Jeder von ihnen hat seine eigenen Geschichten und Probleme, wohl jeder hofft, dass er bald wieder zurück in die Heimat kann. Das Leben geht aber weiter. Und Denys Shurman versucht, einen Platz in einem Integrationskindergarten für Nazar zu finden. Eine kaum lösbar scheinende Aufgabe.

Doch Shurman klagt nicht über diese bürokratischen Hemmnisse, er nimmt sie zur Kenntnis und versucht, sich zu arrangieren. „Patrick hilft mir sehr, ohne ihn wäre es viel schwerer“, sagt er, „ich bin sehr dankbar“. Ittrich winkt ab, kein Ding – „wir haben wirklich neue Freunde gefunden“, sagt er, „für mich war die Begegnung mit Denys und seiner Familie wirklich ein menschlicher Gewinn“.

 

Andreas Hardt (62) arbeitet nach über zwanzig Jahren als Redakteur beim sid und dapd seit 2013 als freier Journalist in Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte ist der Paralympische- und Behindertensport, daneben berichtet er über Golf, Fußball und diverse „bunte“ Themen, die die große, aber oft vernachlässigte Vielfalt des Sports ausmachen.

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