Posted on / by Olympischesfeuer / in Allgemein, Gesellschaft

Problem erkannt. Lösungsansatz falsch gewählt.

Was bedeutet die umstrittene Jugendreform des DFB (www.dfb.de/news/detail/geplant-neue-spielformen-im-kinderfussball-ab-2024-verbindlich-236365/) – zuletzt äußerst ungelenk von Verbands- und Liga-Topfunktionär Hans-Joachim Watzke befeuert – für die sportliche und soziale Nachwuchs-Entwicklung? Pro und Contra halten sich im fachlichen Diskurs die Waage. Anke Naefcke, u.a. Mentalcoach für junge Athletinnen und Athleten, nimmt in einem Essay Stellung. Die zweifache Mutter zieht dabei mehrere Ebenen in ihre Betrachtung ein.

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

Von Anke Naefcke

 

Dies gleich vorab: Der Lösungsansatz für die vom DFB ausgeschriebenen Ziele mit diesen Veränderungen ist meiner Meinung nach nicht richtig gewählt. Spielfreude entwickeln, breitflächige Talentförderung, freie Entfaltung spielerischer und technischer Fähigkeiten, Kinder an den Fußballsport binden, niemanden stehen lassen: Das alles sind gute Ansätze. Aber ist die Abschaffung des Tabellen-Rankings und von Spielergebnissen das richtige Mittel? Ich würde sagen: Ziel verfehlt. Wir sollten den Fokus eher auf die Trainer:innen der jungen Nachwuchsspieler:innen richten, die Ausbildungsstandards beleuchten, neben sportlichen auch pädagogische Lehrgängen und allen Interessierten einen unkomplizierten Zugang zu den professionellen Trainerausbildungen anbieten.

Kinder befinden sich alltäglich im Lernmodus, in allen lebensweltlichen Kontexten: In der Familie werden Werte vermittelt und Haltungen, im Kindergarten soziale Kompetenzen und Tagesstruktur, in der Grundschule Allgemeinbildung, im Sportverein Trainingssysteme und Wettkampferleben sowie soziale Kompetenzen in der Gemeinschaft. Im Vergleich miteinander und ihrem Umfeld entwickeln die Kinder ihre eigenen Persönlichkeiten, stellen fest, wo ihre Stärken sind und was vielleicht nicht so ihren Neigungen entspricht. Und die Kinder suchen sich ihre kleinen eigenen Erfolgserlebnisse. Sie bauen Beziehungen zu ihren Trainer:innen aus, die Erfahrungen teilen, auffangen und positiv verstärken. So verhält es sich doch auch im Spielbetrieb. Hören Kinder tatsächlich mit dem Fußballsport auf, weil sie zu viel Druck haben? Weil sie nie angespielt werden oder nie ein Tor schießen? Nein.

 

Zuviel Druck von außen? Ganz bestimmt!

Oftmals erlebe ich, dass Kinder die Mannschaft verlassen, weil sie andere Talente oder Sportarten für sich entdeckt haben, weil sie merken, Mannschaftssport gehört nicht zu mir, weil sie mit dem Trainer nicht auf eine Wellenlänge kommen oder weil Eltern entscheiden: Du bist nicht gut genug für diese Ballsportart oder die Mannschaft ist nicht gut genug für dein Talent.  Es lassen sich viele Gründe aufzählen – ich habe aber noch nie erlebt, dass ein Kind aus einer Mannschaft austreten wollte, weil das Team den letzten Tabellenplatz einnimmt.

Zuviel Druck von außen? Ganz bestimmt. Zumeist kommt der Druck für diese Kinder doch von außen. Wenn eine Mannschaft sich auflöst, gibt es sehr oft eine Dynamik, die außerhalb des Trainingsbetriebes auf den Platz getragen wird. Da sind die talentierten Spieler, die weggelockt werden, mit dem Angebot leistungsbezogener trainieren zu können. Ein bis drei Vereinswechsel bis zum elften Lebensjahr – Kontinuität, vertrauensvolle Beziehung zum Trainer und dem Verein? Fehlanzeige… Misserfolg – Versagensängste, weil den ständig wechselnden Ansprüchen nicht genügt werden könnte? Genau das! Und: Da sind vor allem auch die Eltern, die ihre Kinder in dieser erfolglosen Mannschaft nicht mehr spielen lassen wollen, oder die Kinder selbst, die das Leistungsniveau der Mannschaft für sich als zu gering einschätzen und denken, auf dem Weg zum Profifußballer zu wenig gefördert zu werden. Sie verlassen das Team, die Trainerin oder der Trainer muss neue, vielleicht nicht so ‚vertraute‘ Spieler in das bestehende Mannschaftsgefüge integrieren – immer wieder.  Die Kinder gehen eher nicht, weil Ihnen die Freude am Fußball und der Sportart fehlt.

 

Bezeichnung ‚Spielfest‘ ändert Wettkampfmodus nicht

In die Praxis geblickt: Zwei gegen zwei; fünf gegen fünf; sieben gegen sieben: Das eine Team spielt gegen das andere, Sieger und Verlierer oder Unentschieden gibt es weiterhin. Es bleibt ein Wettkampf zwischen zwei Teams. die Bezeichnung als ‚Spielfest‘ ändert den Wettkampfmodus nicht.  Am Ende der Spiele werden die Kinder genau resümieren: Mein Team hat fünf von sechs Spielen gewonnen, wir waren besser und die Verlierer waren schlechter. Reduziert das die Freude an der Sportart und dem Spielbetrieb? Wenn ein Team verliert, gibt es Ursachen dafür – eine Realität, mit der die Kinder ein Leben lang konfrontiert werden. Wie soll eine Verbesserungsmotivation und Trainingsehrgeiz entwickelt werden, wenn das Ergebnis eigentlich formal egal ist? Das Ergebnis ist keinem Kind unwichtig. Aber die Motivationen sind unterschiedlich und jedes Kind geht mit einem – zu ihm passenden – adhärenten Egoismus auf den Platz.

Schon im Elementarbereich im Kindergarten werden Kinder dazu angehalten, sich schnell in die Reihe zum Essen zu begeben. Wer hat sich als erster angezogen, wer hat zuerst seinen Platz aufgeräumt usw.? Es gibt Kinder, die immer Erste(r) sein wollen und dann gibt es die Kinder, denen dieses Gerangel um die Krone zu stressig ist. Dabei verspüren sie nicht unbedingt einen Leidensdruck. So ist es doch auch auf dem Fußballfeld. Die Kids vergleichen sich mit Idolen, laufen mit Trikots zum Training auf, auf denen die Namen der besten Profifußballer oder die Embleme der Lieblingsvereine stehen- das sind ihre Vorbilder.

Mein Sohn wollte mit sechs Jahren vor allem Fußballprofi werden und das blieb auch eine ganze Zeit sein Traum. Mittlerweile spielt er primär noch, weil ihm die Sportart Freude macht, das Vereinsleben und die Spiele. Die Spielergebnisse gehörten für ihn dazu, vor allem das gemeinsame Erleben von Sieg oder Niederlage. Gerade die Jüngeren sechs bis neun jährigen Spieler:innen wollen vor allem erstmal Tore schießen – ganz viele. Sie sind eher frustriert, wenn ihr Ball nicht im Tor gelandet ist. Diesen natürlichen Egoismus zum Torerfolg in das Spielsystem der Mannschaft zu integrieren, ohne dass der Ehrgeiz verloren geht, ist Aufgabe der Tranier:innen. Das Soll von Angriff- und Abwehrverhalten im Mannschaftsverbund als Spielfreude zu verstehen, ist ein wichtiger Entwicklungsprozess in diesen Altersgruppen, der sensibel begleitet werden sollte. Mit diesem Coachingansatz wird niemand stehen gelassen- alle sind wichtig. Wenn dieser Transfer nicht gelingt und mal ein Spiel 0:15 ausgeht, haben das gesamte Team und alle Leistungsträger verloren. So hohe Niederlagen sind eher nicht die Regel, kommen aber vor.

Wo hört Spiel auf und fängt Wettstreit an? Welche Philosophie ist richtig?

 

Niederlagen stoßen Reifeprozesse an

Es verliert jedoch nicht der eine Spieler sondern die ganze Mannschaft mit Trainer:in. Jede Niederlage stößt erste Reifungsprozesse auch bei den Jüngeren an. Vergleichende Gedanken wie: Warum schießt diese Mannschaft so viele Tore und wir nicht? Trainieren die öfter? Spielen die schon länger zusammen? Die Gedanken und das Vergleichen sind absolut wichtig in dieser Startphase des Mannschaftssports. Das läuft auch mal eine Träne über die Wange, aber zumindest entsteht auch die eine konstruktive Idee im Kind: Ich will auch so schießen können, ich will auch so stark in der Abwehr sein, ich möchte auch so coole Doppelpässe spielen können und ich habe nicht allein verloren.

Mit dem neuen System nehmen wir den jungen Spieler:innen  die Parameter, an denen sie sich für die wichtigen Reifungsprozesse orientieren können. Die Trainer:innen haben vor Anmeldung zum Ligabetrieb Mitgestaltungsmöglichkeiten bei der Wahl der Spielklasse- und Stärke. Insofern ist das System schon anpassungsfähig und es bedarf keiner neuen Reform. Wenn man Leistungsfähigkeit von einer ergebnisorientierten Bewertung der Mannschaftsleistung abkoppelt, was sind dann die Parameter, an denen sich die Kinder sportlich orientieren sollten?

Meine Tochter hat auf Nachfrage gesagt, ohne Tabelle und Spielergebnis hätte sie keine Motivation gehabt, intensiv zu trainieren, sie wollte erfolgreich Fußball spielen, sich messen. Sie hat mit zehn Jahren angefangen, wurde gesichtet und spielte sechs Jahre in einem Leistungszentrum. Dann hat sie mit 17 aufgehört. Der Druck von außen und der Leistungsanspruch waren für sie entscheidungsrelevant. Eine persönliche Entscheidung, unabhängig davon, dass die Saison mit einem zweiten Tabellenplatz erfolgreich beendet wurde.

 

Rolle des Coaches gehört in den Fokus

Die Rolle der Trainerin bzw. des Trainers gehört hier in den Fokus, denn die Coaches sollten die Ressourcen und Bedürfnisse der Kinder erkennen können und positiv verstärken. Die Befähigung der Trainer:innen, Verantwortung für die mentale Stärkung jedes einzelnen im Team zu übernehmen, sollte vorrangig das Ziel sein. Im Breitensport werden die Kinder oft von engagierten Müttern und Vätern trainiert, die ebenfalls mal im Spielbetrieb aktiv waren, die Jugendmannschaften werden von den Töchtern und Söhnen oder vereinsinternen Jugendspieler:innen betreut. Engagierte Menschen mit einer Treue zum Verein und der Liebe zum Fußball, die jungen und sehr jungen Kindern die Möglichkeiten bieten, Fußball zu trainieren und das Spiel zu erlernen.

Wie sieht es mit ihrer Ausbildung aus? Wie finden sie Zugang zur Ausbildung und Trainerschein? Wie werden sie unterstützt, um den sozio-emotionalen Empfangsraum der Kinder zu erkennen, ihnen an der richtigen Stelle eine Belohnung oder Abgrenzung anzubieten, mit Weitblick den Trainingsbetrieb zu gestalten, ohne dass jemand zurückgelassen wird? Der Austausch findet im Verein statt, jeder Verein entwickelt somit seine eigene historisch gewachsene Spielkultur.

Und nun soll den Trainer:innen in ihren Vereinen eine neue Spielkultur für die Kleineren verordnet werden. Bis einschließlich der E-Jugend. Ohne Tabelle, ohne Leistungsklasse, ohne ergebnisorientierte Spiegelung der tatsächlichen Fähigkeiten ihrer Mannschaft und des damit verbundenen Trainingserfolges. Heißt: Eine neue Teamkultur muss entwickelt werden. Das braucht Feingefühl im pädagogischen Sinne. Meine Sorge ist nicht, dass die zukünftigen Talente abhandenkommen, sondern eher die größtenteils ehrenamtlich engagierten Trainer:innen, die auch eine hohe Eigenmotivation entwickeln müssen, sich zwei- oder dreimal pro Woche auf den Platz zu stellen und am Wochenende mehrstündige Spielfeste mit auszurichten – sich mit dem Anspruch von außen jedoch überfordert fühlen könnten.

Die Trainer:innen fördern die Spielfreude und den Ehrgeiz, gut zu trainieren und sich im Team spielerisch und technisch zu messen. Sich auf das Bewährte zu verlassen, um zu gewinnen und den Tabellenplatz zu verbessern, ist eine bekannte und sichere Strategie. Aber auch verlieren wird man gemeinsam, und das heißt, es muss weiterhin ordentlich trainiert werden, um den spielerischen Vorsprung anderer Teams aufzuholen. Auf der anderen Seite sind die vielen Erwartungshaltungen der Eltern an ihre Fußballkinder und die Trainer:innen überproportional hoch und steigen weiterhin. Das Trainerpotential wird immer am Erfolg der Mannschaft gemessen – gewinnt oder verliert die Mannschaft? Werden viele Tore geschossen, eingefangen oder Chancen vergeben? Da ist so ein Platz an letzter Stelle in der Tabelle ein alternativloses Wechselargument. Oder eine Einladung, für die Außenstehenden, den Trainer zu kritisieren.  Alle Spiele zu verlieren, ohne Eintrag in eine Tabelle, hat die gleiche Außenwirkung.

 

Feedback unausweichlich, Druck wieder da

Vielleicht würde der neue ergebnislose und ebenso Spielfreude fördernde Spielbetrieb den Druck von außen auf die jungen Spieler:innen und einige Eltern und Trainer reduzieren. Das Kind kann aus Freude zum Fußball spielen, bekommt aber doch auch in der neuen Konstellation nach dem Match ein Feedback, ob es die Erwartungshaltungen erfüllt hat oder nicht. Und wenn es das Ergebnis numerisch nicht spiegelt, wird es im Umfeld unaufgefordert kommentiert und bewertet, nicht heimlich, sondern im Beisein des Kindes und Anderer. Die Folge: Der Druck ist wieder da. Sowohl bei gewonnenen als auch verlorenen Spielen verlauten sich negative Kommentare am Spielfeldrand.

Wenn viel Dynamik von außen kommt, muss der innere Kern gestärkt werden.  Der Trainer, die Trainerin, das Mannschaftsgefüge. Die neue Spielordnung wirkt aber nicht verstärkend. Ein geeignetes und konstruktives Mittel zu finden, um den Druck von außen zu reduzieren, dürfte zwar die geeignete Arbeitsthese gewesen – aber nicht bezogen auf die destruktiven Auswirkungen von Ergebnissen und Tabellenplätzen bei Kindern zwischen sechs und elf Jahren. Jugendförderung beginnt mit haltgebenden Organisationsstrukturen, gezielten und altersgerechten Entwicklungsplänen für Jugendmannschaften zur Orientierung für die Trainer:innen. Sowie bei der Etablierung von vereinsübergreifenden Ausbildungsprojekten für die jungen Aktiven und Coaches – zusätzlich zu den Landesauswahlmannschaften – und der allgemeinen Reduzierung von externen Erwartungshaltungen.

Befähigt die Trainerinnen und Trainer, den Kindern zu vermitteln, dass ein Tabellenplatz oder ein Spielergebnis eine richtungweisende Funktion haben, aber in keinem Fall die individuelle Spielfreude und die Liebe zum Fußball bewerten.

 

Anke Naefcke (Jahrgang 1970), ehemalige Leistungssportlerin (Handball) ist HR-Business-Coach, systemische Beraterin und Mentalcoach für junge Athletinnen und Athleten. Und: zweifache Mutter. All diese Faktoren fließen in ihren Text ein. Sie sagt: „Der Mensch ist ständig in Interaktion mit Menschen, mit Systemen und in Organisationen. Zwischen dem Wirken und der gewünschten Wirksamkeit stehen Prozesse. Idealerweise sollten diese konstruktiv und nachhaltig sein.” Mehr über ihren Background und Ihre Expertise finden Sie u.a. hier: www.ifhw.de/anke-naefcke/