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„Spezifisches sporthistorisches Knowhow ist oftmals nicht vorhanden“

(Sport-)Medienexpertin Dr. Verena Burk, Akademische Oberrätin am Institut für Sportwissenschaft der Eberhard Karls Universität in Tübingen und seit über 15 Jahren hochrangige FISU-Funktionärin (siehe Vita unten) blickt aus mehreren Perspektiven auf die zunehmende Politisierung des Sports und der Sportberichterstattung. Wir baten sie zum Interview.

[ALLGEMEIN | GESELLSCHAFT]

Interview: Frank Schneller

 

Olympisches Feuer: Die Sportchefs der großen Print-Titel sagen, dass der Sport längst politisch ist – was natürlich stimmt. Und dass auch die Sportberichterstattung politischer wird. Werden muss. Ergo müssen Reporter insbesondere bei großen Events genauer hinsehen und beschreiben. Ist das auch aus Ihrer Sicht die Aufgabe eines Sportreporters?

Dr. Verena Burk: Der Journalismus muss bestimmte Aufgaben erfüllen – dazu gehört nicht nur Unterhaltung, sondern auch die sachliche Information, die kritische Betrachtungsweise. Journalismus hat eine Kontrollfunktion, muss Missstände aufzeigen. Dieser generelle Anspruch gilt auch für den Sportjournalismus. Und insofern ist er durchaus in der Pflicht, sich auch politischen Themen anzunehmen. Diese nehmen tatsächlich auch in der Sportberichterstattung zu, geraten zunehmend in den Fokus – das liegt natürlich auch daran, dass vor allem der internationale Sport sich immer mehr politischen Themen annehmen muss. Der Sportjournalismus hat sich in der Folge zunehmend mit komplexen sportpolitischen und gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen. Denn Sport ist auch eine Projektionsfläche entsprechender Debatten.

 

Olympisches Feuer: Politische Einflüsse wirken auf den Sport und den Sportjournalismus ein. Wie verhält es sich umgekehrt?

Dr. Burk: Man kann von einer Wechselbeziehung sprechen. Bei den großen Sportereignissen spielen zum Beispiel Kriege, Konflikte, Nachhaltigkeit, Menschenrechte eine wichtige Rolle. Es ist dann auch Aufgabe des Sportjournalismus, diese Debatten nachzuzeichnen – und: über die Berichterstattung einen gewissen Veränderungsdruck bei den Organisationen und Verbänden auszulösen. Zumal diese Diskurse ja direkten Einfluss auf Verbände und Events haben. Nehmen Sie nur die Gender-Diskussion – diese wirkt ja zwangsläufig bis in die Wettkampfstrukturen hinein.

Dr. Verena Burk fordert mehr historischen Background bei der Einordnung sportpolitischer Themen. Eine erneute Olympia-Bewerbung beispielsweise müsse medial auch im Kontext der Olympischen Propaganda-Spiele 1936 betrachtet werden (siehe Aufnahme von der Eröffnungsfeier im Berliner Olympiastadion).

 

Olympisches Feuer: Corona, Olympische Spiele in China, Fußball-WM in Katar, Russlands Angriff auf die Ukraine – Boykotts, Doping, Menschenrechte – der Sport ist seit Jahren extrem aufgeladen. Was bedeutete das für die journalistische Ausbildung?

Dr. Burk: Im Ausbildungswesen muss man auf den Umgang mit den geschilderten Gegebenheiten hinwirken. Allgemeinwissen ist von großem Vorteil. Man kann bei der Ausbildung ansetzen, aber eben auch durch Fortbildungen. Man sollte den Horizont werdender Sportjournalist*innen so gut wie möglich weiten. Auch historisches und sport-historisches Wissen gehören dazu. Um sich an der Debatte rund um eine mögliche deutsche Bewerbung für die Olympischen Spiele 2036 journalistisch zu beteiligen, muss man wissen, was 1936 geschehen ist. Das alles richtig einordnen zu können ist wichtig, aber dazu gehört natürlich historisches Basiswissen. Und wenn beispielsweise israelische und iranische Sportler*innen aufeinandertreffen, sollte man schon im Bilde sein, welche historische Bewandtnis der Konflikt zwischen diesen Ländern hat.

 

Olympisches Feuer: Sehen Sie hier Defizite? Wurden und werden Geschichtskenntnisse in unserer Branche vernachlässigt?

Dr. Burk: Ja. Wenn in meinen Lehrveranstaltungen die Olympia-Boykotte von Moskau 1980 und Los Angeles 1984 thematisiert werden, sind diese bei der heutigen Generation Studierender nicht präsent. Das ist nur ein Beispiel, es beschreibt aber leider den Trend in der universitären sportwissenschaftlichen Ausbildung. Spezifischeres sporthistorisches Knowhow ist oftmals nicht vorhanden.

 

Olympisches Feuer: Und wie sieht es aus, wenn es um juristische, medizinische oder politische Expertise geht? Müssen andere Ressorts mehr mit einbezogen werden, um die Qualität der Berichterstattung zu wahren?

Dr. Burk: Eindeutig: Ja. Man sollte die Kompetenz der anderen Ressorts unbedingt nutzen. Aber das wird ja auch gemacht. Insbesondere bei den großen Titeln. Denken Sie nur an das Sommermärchen rund um die WM 2006 und welche Enthüllungen dem Spiegel dazu gelangen. Das war Teamwork mehrerer Ressorts. Wenn die personellen Ressourcen – dort wo es möglich ist – genutzt werden, kommt ein umfassenderes, kompletteres Bild heraus und es entsteht mehr Tiefgang. Ressort-, aber durchaus auch Medien-übergreifend.

 

Olympisches Feuer: Mehr Tiefgang, mehr Präzision – und auch mehr Sicherheit, dass die Berichterstattung fachlich korrekt ist …

Dr. Burk: … genau. Denn ich glaube nicht, dass ein Sportjournalist – je nach Rahmenbedingungen, Zeitdruck bei der Recherche, Aktualität usw. – sämtliche politische, wirtschaftliche oder auch juristische Aspekte und Kenntnisse auf sich vereinen kann. Dass er sämtliche Themen in ihrer Komplexität immer stichhaltig einordnen kann. Wenn ich allein das Thema Doping betrachte – das beinhaltet derart viele juristische und medizinische Aspekte, die kaum noch nachvollziehbar sind. Da verlässt der Sportjournalismus zwangsläufig sein vertrautes Terrain. Da geht es dann um Substanzen, Verbandsrecht, man muss den WADA-Code kennen usw. – wenn man sich damit zurechtfinden, die richtigen Fragen stellen und auch die Antworten darauf richtig einordnen will, bedarf es einer gezielten Weiterbildung. Oder eben der Expertise aus den jeweiligen Ressorts.

 

Olympisches Feuer: Können das alle Redaktionen liefern?

Dr. Burk: Das ist ein berechtigter Einwand. Ich glaube nicht, dass jedem wirklich alle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden können. Die lokalen und regionalen Redaktionen können das in der Regel im Alltag nicht leisten. Dort heißt es: Täglich eine Zeitung machen, das Online-Angebot aufstellen und Termine besetzen – dass dabei noch das große, fundierte Stück geschrieben werden kann, das ist unrealistisch.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Eröffnungsrede für „Safe Sport“ – Politik und Sport sind längst untrennbar.

 

Olympisches Feuer: Noch einmal zurück zum ‚genauer hinsehen‘: Mehrere Sportchefs betonen im Kontext der sportpolitischen Entwicklungen die Notwendigkeit der Vor-Ort-Berichterstattung. Zurecht?

Dr. Burk: Ja. Man sollte vor Ort sein, aber man muss vielerorts auch mit Restriktionen rechnen – das wirft bei Verlagen sicher die Frage auf: Was ist der Mehrwert, vor Ort zu sein? Es kommt ja auch noch ein Aspekt hinzu, wenn es um die Berichterstattung aus undemokratischen Gastgeberländern geht: Die Menschen dort haben nachvollziehbar Angst, Systemkritik zu äußern, weil es für sie und ihre Familien massive negative Konsequenzen haben könnte. Investigativer Journalismus ist nicht einfach in diesen Ländern – und dann wird aus Kostengründen eben oft abgewogen, welcher Aufwand betrieben werden soll.

 

Olympisches Feuer: Die sportpolitische Berichterstattung driftet mitunter in Haltungs- und Moraljournalismus ab. Ist hier nicht Vorsicht geboten?

Dr. Burk: Fingerspitzengefühl jedenfalls. Wir blicken mit unseren Wertvorstellungen oft auf Länder, die noch etwas Zeit benötigen. Auch in Deutschland hat es viele Jahre gedauert bis beispielsweise die Gleichstellung der Geschlechter, oder die Akzeptanz von Homosexualität in der Gesellschaft angekommen waren. Das darf man nicht vergessen. Ich finde es wichtig, kritisch aus dem Ausland zu berichten – aber auch positive Veränderungen zu beschreiben. Man sollte hinschauen, aber Fortschritte genauso erwähnen wie Missstände.

 

Olympisches Feuer: Die Dachorganisationen stehen ebenfalls in der Dauerkritik.

Dr. Burk: Die großen Verbände wie FIFA, UEFA, IOC bieten viele Angriffsflächen. Oft werden diese für ihre Vorgaben und Regularien kritisiert. Ob uns das gefällt oder nicht, letztendlich muss es Vorgaben geben bei der Vergabe und Durchführung solcher Events.

 

Olympisches Feuer: Sind die sportlichen Mega-Events überfrachtet? Erfolgt Kritik zu reflexartig?

Dr. Burk: An Sportgroßveranstaltungen sind immer riesige Erwartungen geknüpft. Hoffnung auf Veränderung. In China. In Katar. Das sind hochpolitische Veranstaltungen. Aber man muss das richtige Maß beibehalten bei der Einordnung und der Erwartung, was der Sport bei der Öffnung von Gesellschaften leisten kann.

 

Olympisches Feuer: Wie nachhaltig finden Sie die kritische Berichterstattung über Missstände in den Problem-Gastgeberländern?

Dr. Burk: Selten nachhaltig genug. Im Vorfeld von großen Sportevents wird die sportpolitische Berichterstattung enorm angekurbelt, dann haben die kritischen Themen Konjunktur. Während des Events sind sie auch noch bedingt gegenwärtig. Aber danach nimmt die mediale Aufmerksamkeit total ab. Ich fände es wichtig, dass Sportredaktionen ihre eigenen Themen im Nachgang noch mal aufgreifen würden. Überprüfen: Was wurde eigentlich draus?

 

Olympisches Feuer: Den Medien gefällt es, wenn Sportstars öffentlich Position beziehen. Man hat den Eindruck, es wird zunehmend sogar erwartet. Wie stehen Sie dazu?

Dr. Burk: Geäußerte, öffentlich gemachte Haltung von Sportstars sind populär, das stimmt. Wir erleben diese auch durch eine zunehmende Kommunikations-Autonomie der Aktiven. Das ist zunächst wünschenswert. Aber: Nicht jeder muss sich zu allem äußern. Wer nach Peking reist, um Gold im Rodeln zu holen, muss dort keine politische Agenda abarbeiten. Dies kann man jedenfalls nicht verlangen. Da setzen sich viele Aktive einen ziemlich schweren Rucksack auf. Beziehungsweise: Er wird ihnen aufgesetzt …

Bundeskanzler Olaf Scholz mit Blick auf den EM-Pokal (Replika): Nicht nur anlässlich der Europameisterschaft 2024 in Deutschland äußert sich der Kanzler sportpolitisch.

 

Olympisches Feuer: … zum Beispiel vom DFB, wenn er seine Nationalteams als Werte-Botschafter entsendet. Bei der WM in Katar endete das in jeder Hinsicht desaströs…

Dr. Burk: Es war naiv zu glauben, die Diskussion rund um die Aktion mit der One Love Binde erledigt sich während des Turniers irgendwie von alleine. Dass die FIFA auf Zeit spielt und das Thema nicht aktiv auf die Tagesordnung bringt, war naheliegend. Hier lag das Versäumnis eher beim DFB. Das ist unverständlich für mich: Wenn ich mich außerhalb der Verbandsvorgaben bewegen will, muss ich es rechtzeitig klären und es dann nicht auf dem Rücken der Sportler austragen.

 

Olympisches Feuer: Werden die zu oft in eine Rolle gedrängt?

Dr. Burk: Wenn die Aktiven es wollen, ist es in Ordnung. Sie nutzen dafür ja auch die Sozialen Netzwerke. Hier gibt es positive Beispiele wie das von Erik Lesser, der seinen Instagram-Account ukrainischen Sportlern überließ. Aber eine regelrechte Erwartungshaltung ist nicht dienlich. Auch nicht seitens der Berichterstatter. Aktive sollten sich nicht in eine Rolle drängen lassen. Es muss ihr Anliegen sein, sonst ist es nicht mehr authentisch und wirft die Frage auf: Welcher Zweck steckt eigentlich dahinter?

 

Olympisches Feuer: Haben Sie den Eindruck, dass in der sportpolitischen Berichterstattung Fakten und Haltung manchmal zu sehr vermengt werden?

Dr. Burk: Eine notwendige Trennung zwischen Fakten und Meinung gibt es im Sportjournalismus nach wie vor. Häufig findet aber Wertung nicht nur in Kommentaren, sondern auch in anderen Darstellungsformen statt. Es gibt Grauzonen, die Grenzen verschwinden schon mal. Solange die Ausgewogenheit im Artikel oder Beitrag gewährleistet bleibt, ist das für mich als Rezipientin jedoch in Ordnung.

 

Olympisches Feuer: Gewisse Wertungen sind erlaubt, solange konträre Standpunkte ebenso beschrieben werden?

Dr. Burk: Genau. Die Meinungsvielfalt muss gewährt bleiben. Wir machen zu 99% keine Primär-Erfahrungen, sondern bilden uns unsere Meinung über Berichterstattung. Und darum muss diese möglichst austariert sein.

 

Olympisches Feuer: Erwarten Sie mit Blick auf die kommenden großen Turniere in Deutschland eine weitere Zunahme politischer Strömungen in der Sportberichterstattung?

Dr. Burk: Ja, vor allem in Bezug auf eine mögliche Olympia-Bewerbung. Das ist ein aufgeladenes Thema. Gigantismus. IOC. Kosten. Sinn und Zweck der Spiele. Dazu wird es eine sehr lebhafte Berichterstattung im Sport geben.

 

Zur Person: Dr. Verena Burk:

  • Seit 2009: Akademische Oberrätin am Institut für Sportwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Studiengangsleitung für den Bachelor-Studiengang „Sportwissenschaft mit dem Profil Medien und Kommunikation“
  • Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Sportberichterstattung (u.a. Sportberichterstattung im Fernsehen), Social Media und Sport (u.a. Nutzung von Social Media durch Sportler/innen und Sportler sowie Sportvereine, Krisenkommunikation) sowie Organisation des Spitzensports (u.a. Organisation des deutschen Spitzensports, Duale Karriere im internationalen Vergleich)
  • Seit 2007: Mitglied des FISU Executive Committee (seit 2015: Senior Executive Committee Member und somit Mitglied des FISU Steering Committees)
  • 2011-2019: Vorsitzende FISU Media and Communication Committee

Seit 2015: Vorsitzende FISU Education Committee

 

 

Frank Schneller (53), Sportjournalist und Themenproduzent aus Hamburg. Seine Laufbahn begann Frank Schneller beim SportInformationsDienst, arbeitete dann viele Jahre in der Redaktion der Sport-Bild. Seit 2001 arbeitet Schneller als Freelancer und ist seit 2011 Leiter des Reporter- und Dienstleister-Netzwerks Medienmannschaft.

2 thoughts

  • Mit Verlaub: Nirgendwo im Text wird genau erklärt, wer oder was die FISU ist !

    Zudem wäre die Frage und deren Beantwortung spannend gewesen, was denn in Zukunft
    mit Sport-Journalismus geschieht,
    wenn Zeitungsredaktionen noch mehr rationalisieren, um angesichts schwindender Abonnenten Kosten
    zu sparen, sich Zeitungsverlage zusammenschließen und schließlich noch die ´künstliche Intelligenz` zum Einsatz kommt.

    Gruß M. Hakenmüller, 72379 Hechingen

    • Die FISU ist die International University Sports Federation – stimmt, das hätte man eingangs durchaus mal ausschreiben und somit erklären können. Danke für den Hinweis.

      Zu den anderen Aspekten: Die sind interessant, richtig. Darum ging es aber schlicht in diesem Interview nicht. Es ging um die Politisierung von Sport und Sportberichterstattung. Man könnte noch zig Themen auffächern, aber dann würden solche Interviews einfach zu lang. Zu den von Ihnen angeschnittenen Themen findet sich derweil mehr in den Interviews mit den Sportchefs von FAZ und Spiegel – auch auf diesem Portal.

      Das Thema KI ist ein spezielles, in der Tat hochaktuelles Feld und wird viele Bereiche sehr bald noch mehr tangieren. Das ist gleichermaßen spannend wie beängstigend. Könnte sein, dass uns das auch absehbar mal redaktionell beschäftigt. Es muss dann aber inhaltlich auch passen zu den generellen Inhalten dieses Portals. Und dann würde der Text – versprochen – auch nicht von einem Roboter verfasst, sondern von jmd. aus der leibhaftigen Redaktion.

      Beste Grüße, der Autor.

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